Panel F

Sprechen und Zeitlichkeit

Konzeption und Leitung: Dr. Anna Weichselbraun (Wien /AUT)

Sprechen verweist auf unterschiedliche Modi des Zeitlichen. In sprachlicher Interaktion werden zeitliche Ebenen referenziert, Zeit wird explizit reflektiert oder durch sprachliche Verweise impliziert, Zeitlichkeit wird als sprachliche Ressource genutzt und durch sprachliche Formen differenziert zum Einsatz gebracht. In der Empirischen Kulturwissenschaft sind Formen von und Zugänge zu sprachlich vermittelter Zeit verschiedentlich zum Thema gemacht worden: Als räumlich gebundene Zeit des Dort und Dann und Hier und Jetzt, als räumlich ungebundene Dauer und Zeitlosigkeit, als biografische Zeit in Erzählprozessen, als narrative Struktur sowie als ‚reale Zeit‘ von sprachlichen Interaktionsprozessen.

Die Beiträge des Panels knüpfen an diese Bestände an und fragen am Beispiel unterschiedlicher Felder nach sprachlichen Repräsentationen von Zeit. Sie nutzen Ansätze aus Erzählforschung, Folkloristik und linguistischer Anthropologie, um analytische Zugänge zum Zusammenhang zwischen Sprache und Zeit zu diskutieren. In den Beiträgen wird gefragt,

  • wie Zeitlichkeit erzählend Legitimation erzeugt (Bendix)
  • wie Zeitlichkeit als Interaktionsressource eingesetzt wird (Busch)
  • wie zwischen unterschiedlichen Zeitlichkeiten sprachlich vermittelt wird (Groth)
  • welche zeitlichen Ebenen sprachlichem Handeln der sozialen Positionierung
    innewohnen (Meyer)
  • wie soziale Positionierungen verzeitlicht wahrgenommen werden (Weichselbraun)

 

Prof. Dr. Regina F. Bendix (Göttingen)

1967 – Zeit des Rückschlags – Sechs-Tage-Krieg: Eine Wendezeit und deren Versprachlichung

Der Beitrag von Regina F. Bendix befasst sich mit der Etablierung von zeitlichen Verläufen und Referenzpunkten im biographisch-historischen Erinnern. Unter Rückgriff auf Dell Hymes klassischen Ansatz der „Ethnographie des Sprechens“ (2012, 1977) werden Interviews mit Israelis und Palästinenser*innen auf die Versprachlichung ihrer individuellen, im Alltag eingebetteten Erfahrung des kurzen Kriegs zwischen der arabischen Liga und Israel im Juni 1967 untersucht. Eigene Lebenszeit, politische Zeit, mythische Zeit, Zeitlosigkeit und Wendezeit werden u. a. in Wortwahl, Erzähltempo und -stagnation sowie Leerstellen greifbar und verweisen auf individuelle bzw. fragmentierte Positionierungen vis-à-vis (welt-)historischer Narrative.

 

Dr. Florian Busch (Halle-Wittenberg)

Kommunikationsideologien der Zeitlichkeit: Chronemische Praktiken in digitalen Interaktionen

Der Beitrag von Florian Busch beschäftigt sich mit der kommunikationsideologischen Dimension von Zeitlichkeit in schriftbasierten Interaktionen mittels digitaler Medien. Phänomene der Chronemik – also der Zeichenhaftigkeit von Zeit (vgl. Bruneau 1980) – sind in linguistischer Forschung bislang eher am Rande thematisiert worden. Gleichwohl zeichnet sich nicht nur ab, dass sich digitale Interaktionen in einem bestimmten Rhythmus entfalten, sondern dass dieser Rhythmus für Teilnehmende sozial bedeutsam ist und dementsprechend als interaktionale Ressource herangezogen werden kann (vgl. Jones 2013). Solche chronemischen Praktiken des digitalen Schreibens analysiert der Beitrag einerseits auf Grundlage von WhatsApp-Chatlogs norddeutscher Jugendlicher, während er andererseits die zugrunde gelegten Kommunikationsideologien anhand von Interviews mit Schüler*innen herausarbeitet und so darstellt, wie sich eine soziale Indexikalität der Zeitlichkeit konstituiert.

 

PD Dr. Stefan Groth (Zürich /CH)

Zeitlichkeit und Außensicht – Zeitebenen der Konstruktion Europas durch außereuropäische Akteure

Der Beitrag von Stefan Groth fragt nach unterschiedlichen Zeitlichkeiten in der diskursiven Konstruktion Europas durch außereuropäische Akteure. Auf Grundlage von Interviews mit ausländischen Studierenden in Deutschland wird gezeigt, wie Vorstellungen von und Meinungen über Europa sprachlich gestaltet werden und wie dabei zwischen verschiedenen und sich überlagernden zeitlichen Ebenen vermittelt wird. Der Beitrag arbeitet mit dem Konzept der Entextualisierung (Bauman und Briggs 1990), um die Mobilisierung zeitlich unterschiedlich gelagerter Diskursfragmente mit Bezug auf Vorstellungen von Europa zu analysieren.

 

Prof. Dr. Silke Meyer (Innsbruck /AUT)

Gleichzeitig man selbst und anders sein. Zeit und soziale Positionierung in der Erzählforschung

Nach Paul Ricoeur wird eine „Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt (Ricoeur 1988:13). Silke Meyer widmet sich der Bedeutung der Zeiterfahrung mit einem Fokus auf erzählter Zeit und Erzählzeit in Interviews zum Thema Migration. Zeitlichkeiten werden hierbei in ihrer Funktion der Linearisierung von Biografien, der Distanzierung durch deiktische Verweise (damals und jetzt) und als Ausdruck eines autoepistemischen Prozesses der Erkenntnis eingesetzt. Auf übergeordneter Ebene lassen sich in diesen Zeit-Konfigurationen narrative Mittel der sozialen Positionierung und Identitätskonstruktion erkennen, die das zentrale Erkenntnis­interesse des Beitrags ausmachen.

 

Dr. Anna Weichselbraun (Wien /AUT)

Jetlag und Schleudertrauma in der „Corona-Zeit“

Der Beitrag von Anna Weichselbraun beschäftigt sich mit unterschiedlichen Zeitlichkeiten der Corona-Epidemie und wie diese sprachlich zum Ausdruck gebracht und dadurch erfahren werden. Sie beobachtet, wie die Ungewissheiten der Pandemie zu rapide wechselnden narrativen Positionierungen führt. Unter Rückgriff auf Literaturtheoretiker Mikhail Bakhtins (1981) Begriff des Chronotopos, analysiert der Beitrag Erzählungen der „Corona-Zeit“ auf ihre zeitlich positionierten Merkmale sowie die Auswirkungen der globalen Pandemie-Erfahrung auf das Vertrauen in Mitmenschen und Staat.

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