Olivia Frigo-Charles M.A. (Zürich/CH)
Geplante Zufälligkeit? Serendipitöse Begegnungen und die Transformation von Gemeinschaften in deindustrialisierten Kontexten
Mit dem Verlust traditioneller Infrastruktur und lokaler Industrien in Südwales verändert sich die Dynamik alltäglicher Begegnungen. Früher spielten spontane Interaktionen, etwa an Bushaltestellen oder im Dorfladen, eine zentrale Rolle bei der Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Solidarität. Solche Momente schufen soziale Bindungen und prägten die Identität der Dorfgemeinschaft. Viele Interviewpartner:innen betonten, dass „Everyone knows everyone“ ein prägendes Merkmal war. Man wollte über das Leben der anderen informiert sein – aus Fürsorge, nicht Neugier. Sara Ahmed (2014) beschreibt solche Bindungen als essenziell für Zusammengehörigkeit.
Heute sind solche Begegnungen seltener, da lokale Geschäfte schließen und Individualverkehr öffentliche Verkehrsmittel ersetzt. Bewohner:innen beklagen den Verlust dieser Zufallsräume und sehen darin eine Ursache für die soziale Fragmentierung. Dies wirft die Frage auf: Wie können serendipitöse Begegnungen in einer individualisierten Gesellschaft neu geschaffen werden? Wie lässt sich das Paradox der geplanten Zufälligkeit einordnen?
Geplante Zufälligkeit vermittelt zwischen Struktur und Spontaneität. Bourdieu (1982) zeigt, dass scheinbar spontane Handlungen tief in einem Habitus verankert sind. Zufälligkeit ist somit oft das Ergebnis latenter Strukturen. Kulturwissenschaftlich lässt sich geplante Zufälligkeit als Versuch deuten, Räume zu schaffen, die Spontaneität ermöglichen, ohne sie vollständig zu determinieren.
Henri Lefebvres Konzept der räumlichen Praxis bietet einen theoretischen Rahmen, um den Verlust und die Neugestaltung von Begegnungsräumen zu analysieren. Soziale Veränderungsprozesse erschweren zufällige Begegnungen, machen sie jedoch nicht unmöglich. Boym’s (2001) Konzept der Nostalgie, welches zwischen restaurativer und reflexiver Nostalgie differenziert, kann bei der Analyse der Dynamik zwischen Vergangenheit und Zukunft bei der Gestaltung von Begegnungsräumen helfen: Während die eine vergangene Strukturen idealisiert, ermöglicht die andere innovative Lösungen für neue Begegnungsräume.
Dieser Beitrag untersucht ethnographisch, wie solche Räume gestaltet werden können – von Gemeinschaftszentren bis hybride digitale Plattformen. Abschließend wird diskutiert, wie emotionale, räumliche und nostalgische Dimensionen kombiniert werden können, um soziale Bindungen neu zu denken und ob geplante Zufälligkeit so zur Grundlage für neue Formen von Gemeinschaft werden könnte.