Laura Marie Steinhaus M.A. (Freiburg)
Zum strategischen Umgang mit dem (Un-)Erwarteten in jüdischen Bildungsinitiativen
Im öffentlich-medialen Diskurs in Deutschland wird das Judentum häufig auf religiöse Aspekte reduziert oder nur innerhalb der Trias aus Antisemitismus, Shoah und Israel adressiert. Mit dem Ziel, diese Verkürzungen herauszufordern, sind in den letzten Jahren viele jüdische Bildungsinitiativen entstanden. Ihre Arbeit, so die These, grundiert ein strategischer Umgang mit dem (Un-)Erwarteten, der sich als Operationalisierung von Überraschung und Kontingenz interpretieren lässt.
Zum einen nutzen die jüdischen Bildungsinitiativen Überraschung als irritierendes, ambivalentes und zuweilen provokatives Moment, um mit dem Erwarteten zu brechen: In Unterrichtsmaterialien wird beispielsweise statt eines orthodoxen Rabbiners mit Schläfenlocken ein oberkörperfreier Mann mit Tattoos und einer Davidsternkette zwischen den Lippen dargestellt. In sogenannten interreligiösen Dialogen sprechen Jüdinnen:Juden nicht nur über ihre Traditionen, sondern auch darüber, dass die meisten von ihnen gar nicht religiös sind. Überraschung auf diese Weise zu organisieren und zu operationalisieren, bedeutet immer auch, Erwartungen zu antizipieren.
Zum anderen versuchen die Bildungsinitiativen, das Unerwartete durch Kontingenzmanagement einzuhegen: In Unterrichtsmaterialien wird das Jüdische spezifisch gerahmt, um eine bestimmte Rezeption wahrscheinlicher zu machen. In Dialogformaten, die als soziale Interaktionen grundsätzlich kontingent sind, müssen die politischen Bildner:innen das Unerwartete situativ navigieren. Sie sind etwa mit unerwarteten Fragen konfrontiert und damit auf unterschiedlichen Ebenen herausgefordert – nicht nur hinsichtlich komplexer Wissensbestände zum Judentum oder ihrer politischen Haltungen, sondern auch emotional. Um hier Kontingenz zu minimieren, stellen die Bildungsinitiativen Ausbildungsprogramme bereit, in denen die politischen Bildner:innen Umgangsweisen damit erproben können.
Vor diesem Hintergrund perspektiviert der Vortrag politische Bildungsarbeit zum Judentum als produktiven Kontext, um sich der Operationalisierung von Überraschung und Kontingenz empirisch zu nähern. Anhand von narrativen Interviews mit Beteiligten von Bildungsinitiativen und auf der Basis teilnehmender Beobachtungen ihrer Arbeitspraxis zeigt der Vortrag auf, wie sich der strategische Umgang mit dem (Un-)Erwarteten gestaltet und was er wiederum über die Vermittlung von Wissen über jüdisches Leben aussagt.