Sektion_10_A

Dr. Maren Heibges (Berlin)
Kontrolliertes Chaos: Standardisierung in der medizinischen Beratungspraxis aus digitaler und analoger Perspektive

Überraschung, Zufall und Kontingenz sind unerwünscht in der zeitgenössischen europäischen Medizin. Mein Vortrag fokussiert, wie sich die Abwehr des Zufälligen und Kontingenten in normativen Anforderungen und dem alltäglichen Durcheinander der medizinischen Beratungspraxis zeigt und bricht – und zwar auf unterschiedliche Weise während Online- und Offline-Sprechstunden.

Standardisierte und strukturierte Ansätze der Behandlung, der Datenauswertung und auch der zwischenmenschlichen Kommunikation in der Medizin sollen idealerweise sicherstellen, dass die Behandlungseffizienz gesteigert wird, Erfolgs-Narrative von Big Pharma und einzelnen wissenschaftlichen Eminenzen hinterfragt werden und Gefahren für Patient:innen und Patienten möglichst gering gehalten werden. Das Bestreben der Medizin, Unsicherheiten zu kontrollieren, kann jedoch auch dazu führen, dass Patient:innenbedürfnisse unterschätzt werden und alltagsfremde Modelle an die nuancierte ärztliche Praxis herangetragen werden. Das medizinische Kommunikationskonzept der sogenannten „geteilten Entscheidungsfindung“ – im diskursiven Fokus meines Vortrags – wird heute in Europa als bevorzugter Standard gelehrt, um Ärzt:innen und Patient:innen zu einer deliberativen Behandlungsentscheidung zu führen. Mit der Einhaltung des Konzeptes sollen die Kontingenzen medizinischer Kommunikationssituationen eingeschränkt werden, genauso wie ärztliche Tendenzen, nicht offen in medizinische Beratungssituationen hineinzugehen.

Grundlage meines Vortrags sind ethnografische Videoanalysen medizinischer Beratungen, die offline und online stattfanden, sowie begleitende Interviews mit Ärzt:innen und Patient:innen. Das Paradigma der geteilten Entscheidungsfindung zeigt sich in der Praxis als brüchiges Konzept, das oft „anderswo“ stattfindet und als Modell eine individualistische und situationsfixierte Voreingenommenheit mit sich bringt. Reguläre, körperlich ko-präsente Kommunikation zwischen Patient:innen und Ärzt:innen zeigt sich im Vergleich zur digitalen Sprechstunde als chaotischer, unberechenbarer und vielschichtiger. Der Vergleich zwischen Online- und Offline-Medizin offenbart jeweils spezifische Kontingenzen und Übersetzungsschwierigkeiten zwischen digitalem und analogem Raum.

Christian-Albrechts-Universität Kiel

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

Veranstaltungsgebäude 2

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund