JProf. Dr. Ruzana Liburkina (Hamburg) / Dr. Patrick Bieler (München)
Materielle Unvorhersehbarkeiten: Zu den Potenzialen substanzorientierter Ethnografie
Welche Perspektive kann noch überraschen, wenn es um Materialität geht, und wie lässt sich damit Unvorhergesehenes greifen? In der KAEE/EKW haben sich mit einer beachtlichen Forschungsgemeinschaft, die auf materielle Kultur fokussiert (König 2005; 2013; Samida et al. 2014), sowie Ansätzen aus der Wissenschafts- und Technikforschung (Beck et al. 2012; Farías & Bender 2010; Färber 2014) zwei unterschiedliche Wege etabliert, wie wir Materialität analysieren können: entweder als mit Bedeutung versehene und in soziale Beziehungen eingebundene Objekte oder als in Geflechten handlungsfähige und kontinuierlich im Werden begriffene Elemente. Hinzu betonen Perspektivierungen aus Multi-Spezies Ethnografien (Fenske & Otto 2023) oder feministischen Ansätzen in den STS (Gesing et al. 2018) Hybridisierungen zwischen lebendiger und nicht-lebendiger Materie. So scheint zuweilen, als sei Materialität hinlänglich konzeptualisiert und erforscht.
In diesem Beitrag nehmen wir anhand substanzorientierter Forschung (Papadopoulos et al. 2021) zu den materiellen Rückständen (Boudia et al. 2022) der chemischen Forschung und Produktion im Spätindustrialismus (Fortun 2012) eine Perspektiverweiterung vor. Entlang eigener Forschungsprojekte zu chemischen Bösewichten (Arsenverbindungen) sowie Helden (nachhaltige Baustoffe) buchstabieren wir diese ‚junge‘ methodisch-analytische Herangehensweise aus. Wir diskutieren, wie sich mit ethnografischem Forschen zu Stoffen und ihren ökologischen Wechselwirkungen neue Einblicke in materielle Eigenschaften generieren (Davis 2022) und die immer bereits historisch-kulturelle Formung des Materiellen akzentuieren lassen (Landecker 2024). Entlang dreier Aspekte – dem chemischen Maßstab, der Bindigkeit und Reaktivität sowie der ökonomischen und regulatorischen Lesbarkeit von Substanzen – wird deutlich: Was auf Ebene von Molekülen planbar und stabilisiert ist, kann (böse) Überraschungen auf Objektebene nach sich führen, während umgekehrt kontrollierte Materie chemisch aktiv werden und Unvorhersehbarkeiten produzieren kann.
Substanzorientierte Untersuchungen laden dazu ein, das Unvorhergesehene neu zu konzeptualisieren, indem die (oft verheerenden) Konsequenzen von Chemikalien für Mensch und Umwelt jenseits von Wissenslücken und vermeintlich unvorhersagbaren und unintendierten (Neben-)Effekten anders greifbar werden. Damit werden wertvolle theoretische und methodologische Impulse für die bestehenden Felder der Materiellen Kultur und STS generiert.