Das Unbestimmte aushalten. Ergebnisoffenes Forschen in Zeiten pluraler Unsicherheiten
Leitung: Dr. Lydia Maria Arantes (Graz/AUT)
Kulturanthropologisch und ethnografisch Forschenden wird viel abverlangt: Sie sollen ergebnisoffen dem Unbekannten, Unbestimmten und Unbestimmbaren ihrer Forschungsfelder folgen und Momente von Serendipity, Irritation, Überraschung oder Krise (Lindner 2012, Nadig 1986, Willis 1980, Halilovich 2019) erkenntnisleitend nutzen. Forschungen sollen multi-sited, multi-modal, multi-sensory, multi-temporal … sein (Marcus 1995, Glaser/Strauss 1967, Pink 2015, Dattatreyan/MarreroGuillamón 2019), während sie in der Praxis mit dominanten Anforderungen positivistischer und empiristischer Wissenschaft kollidieren. Dies löst Blockaden aus, Störungen und Angst (Bonz/Eisch-Angus 2017, Nadig/Erdheim 1984, Devereux 1967). Was nun, wenn die Forschung zugleich auch uneindeutige, verunsichernde oder angsterregende Inhalte generiert? Wenn vermischte Emotionen, Konflikte oder Gewaltgedächtnisse, aber auch normalisierte Alltagsbanalität methodisch und theoretisch zu erschließen sind?
Die Beiträge dieses Panels diskutieren, wie (nach)erlebte Krisen, Disruptionen, aber auch Überraschungsarmut im Feld mit Verunsicherungen, sowie zufälligen heuristischen Glücksmomenten der Forschenden zusammengeführt und analytisch bzw. epistemologisch produktiv gemacht werden können.
Dr. Lydia Maria Arantes (Graz/AUT)
Produktive Unsicherheit? Ergebnisoffenes Forschen und Lehren in ungemütlichen Zeiten
Nicht nur gesellschaftliche Veränderungsprozesse unterschiedlichen Maßstabs, sondern auch die Klassenlage der Forscher:innen oder das Fach und die Schattenseiten seiner Geschichte selbst lösen unter empirisch-kulturwissenschaftlich Forschenden zuweilen ein Unbehagen aus, das emergentes Forschen erschwert. Weiters blockiert nicht nur die „Angst des Forschers vor dem Feld“ (Lindner 1981), sondern auch die Angst davor, was es heißt, wissenschaftlich zu arbeiten, eine für Überraschungen gewappnete Vorgehensweise.
Basierend auf Fallbeispielen aus meiner Forschung und Lehre plädiere ich insofern für das Aushalten, Kultivieren und Produktivmachen von Unsicherheit.
Mateja Marsel MA (Graz/AUT)
Überraschend banal? Wenn bei der Forschung über Sex keine Ekstase, sondern nur Fummeln vor dem Fernseher gefunden wird
Nicht nur aufregende Überraschungen und offensichtliche Störungen im Feld können zu Krisen und Blockaden führen, sondern auch die Banalität des Alltäglichen. Vieles erscheint offensichtlich, nicht interessant oder erzählenswert. Sowohl die Erwartungen an uns selbst als auch die universitäre (Verwertungs-)Logik lassen uns am (Mehr)Wert unseres Tuns zweifeln. Dabei macht das Gefühl der Banalität, das durch das intensive Eintauchen und Hineindenken in das Feld entsteht, erst subtile Formen von Gefahr und Gewalt sichtbar.
Dr. Medina Velić (Graz/AUT)
Disruptives Forschen – Irritationen im Kontext des (unerwartet) Post-Genozidalen
Der Genozid von Srebrenica wird im Gedächtnis vieler Zeitzeug:innen als „überraschender Wahnsinn“ beschrieben. Die aus der Krise resultierenden Erinnerungen werden im diasporischen post-genozidalen Kontext autoethnographisch sowie künstlerisch analysiert. Neue methodische und theoretische Fragen ergeben sich aus dem Unverständnis von Förderinstitutionen gegenüber einer Forschung, die sich als Bricolage aus Artefakten, Sinneswahrnehmungen und Erfahrungswelten der Forscherin entfaltet.
Prof. Dr. Jochen Bonz (Münster)
Die vorgestellten Forschungen werden am Schnittpunkt von sensueller Ethnografie und Ethnopsychoanalyse im Hinblick auf die methodologische Relevanz, die dem subjektiven Welterfahren für das Forschen zukommt, reflektiert.