Fragile Produktivität.
Zeitliche Ordnungsstrukturen in ländlichen und häuslichen Ökonomien
Konzeption und Leitung: Dr. Lars Winterberg (Bonn)
Agrar- und Ernährungskulturen unterliegen multiplen zeitlichen Ordnungsstrukturen. Das Panel fragt nach den Bedeutungen und Effekten von Temporalisierungen in ländlichen und häuslichen Ökonomien. Der Fokus liegt dabei auf Fragilitäten, die von Krisen, Umbrüchen und Transformationen künden. Auf diese Weise sollen mögliche Herangehensweisen und Perspektiven der Vergleichenden Kulturwissenschaft konturiert, der Aspekt des Zeitlichen analytisch fruchtbar gemacht und auch künftige Herausforderungen disziplinärer Agro-Food Studies diskutiert werden.
Die nachfolgenden Beiträge basieren auf lfd. bzw. kürzlich abgeschlossenen mehrjährigen ethnografischen bzw. hist.-archivalischen Forschungsprojekten.
Dr. Judith Schmidt (Bonn)
Narrationen des Scheiterns. Ökonomische Prognosen deutscher Landwirte und ihrer rumänischen Saisonarbeitskräfte
In der pflanzenbauenden Landwirtschaft gibt der Vegetationszyklus den Arbeitsrhythmus vor. Die Ernteperiode verdichtet den Personalbedarf der Höfe, welcher primär über ausländische Saisonarbeitskräfte gedeckt wird: Deutsches Obst und Gemüse geht fast ausnahmslos durch ihre Hände. Globale Mobilitäten bilden das Fundament unserer Agrarproduktion – und gelten selbst im Kontext der aktuellen Corona-Pandemie als systemrelevant. Der ökonomische Druck lastet schwer auf den Akteur*innen: Jahresumsätze und Lebensunterhalte gilt es binnen weniger Wochen zu erwirtschaften. Die besondere Bedeutung immanenter Zeitregime offenbart sich exemplarisch im Aspekt des Scheiterns. Wie werden bspw. Hofaufgaben verhandelt, was veranlasst Saisonarbeitskräfte, ihre Arbeit im Ausland aufzugeben und wie werden mögliche Misserfolge in Prognosen und Zeitpraxen übersetzt?
Prof. Dr. Barbara Wittmann (Bamberg)
Planbarkeit vs. Anpassungsdruck. Zeitwahrnehmungen als Konflikt zwischen Landwirtschaft und Tierschutz
Die moderne Tierhaltung steckt in der Krise. Das zähe Ringen um strengere Gesetzgebungen und eine nachhaltigere Agrarpolitik beruht – so die These des Beitrags – nicht zuletzt auf „subjektiven zeitlichen Befindlichkeiten“ (Drascek 2005) der am Diskurs beteiligten Akteur*innen. Während in der Landwirtschaft ein generationenübergreifendes, auf langfristige Planbarkeit ausgerichtetes Denken kennzeichnend ist, besteht aus Sicht des Tierschutzes angesichts klimatischer, ökologischer und tierethischer Herausforderungen dringender Handlungsbedarf. Der Beitrag nähert sich dem Konflikt, indem entlang abweichender Zeitwahrnehmungen und -praxen divergierende Positionen eines umkämpften Felds intensivierter Landwirtschaft analysiert werden.
Frédéric Gesing M. A. (Hachenburg)
Zeitenwende Fleischwissen? Hausschlachtung, Fleischkonsum und der Einzug von Kältetechnik auf dem Land
Der Faktor Zeit spielte in den Dörfern des Westerwaldes bei der Fleischerzeugung eine zentrale Rolle. Aufzucht, Mast und Schlachtung der Tiere sowie ihre Verarbeitung und die Herstellung von Fleisch folgten im Takt des Jahreslaufs einem festen zeitlichen Ablauf. Erst neue Kühltechniken lösten tradierte zeitliche Horizonte auf und flexibilisierten den regionalen Fleischkonsum. Der Bau von Gemeinschaftsgefrieranlagen läutete Ende der 1950er Jahre eine Zeitenwende ein. Wenige Jahrzehnte später markieren sie nicht nur den Fortschritt einer scheinbar fernen Vergangenheit: Einzelne Anlagen sind als materialisierte Anachronismen noch immer in Betrieb, verknüpfen so Gegenwart, Vergangenheit und – angesichts jüngerer Umwertungen unserer Konsumpraxen – vielleicht sogar mögliche Zukünfte eines ländlichen Alltags. Dies eröffnet museologische Reflexionsräume.
[Der Teilbeitrag muss leider entfallen – Update 28.03.2022]
Corinna Schirmer M. A. (Dortmund)
„Man nehme …“ – gesellschaftliche Transformationen und ihre alimentären Effekte im Spiegel von Kochbuchliteratur
Kochbücher sind Alltagsdinge und Wissensspeicher ihrer Zeit. Sie spiegeln wandelnde gesellschaftliche Herausforderungen, dokumentieren wechselnde Einflüsse, sozio-technische Innovationen, neue Rollen und grundlegende Transformationen häuslicher Ökonomien. Auf Basis der vielfältigen Bestände des Deutschen Kochbuchmuseums fokussiert der Beitrag multiple Temporalisierungen und ihre Auswirkungen im häuslichen Wirtschaften seit dem frühen 19. Jahrhundert. Welchen zeitlichen Mustern und Rhythmen folgten bspw. Vorratshaltung und Zubereitung? Welche Akteur*innen und häusliche Rollen wurden adressiert? Inwieweit unterlagen Kochpraxen, Rezept- und Produktauswahl zeitlichen Einflüssen? Formen und Praxen eines sich im Kontext fortschreitender Industrialisierung sukzessive verändernden Koch- und Fleischwissens lassen sich am Beispiel verschiedener Rezepte wie „Bœuf à la mode“ analysieren.
Dr. Lars Winterberg (Bonn)
Moderation | Rahmung | Ausblick – Food Futures. Agrar- und Ernährungskulturen zwischen Risiko und Resilienz
Scheitern und Konflikte, Umbrüche und Zeitenwende: Agrar- und Ernährungskulturen waren stets krisenanfällig. Missernten und Hunger prägten die Vormoderne, doch auch in den späteren Wohlstandsgesellschaften begannen sich Risiken und Nebenfolgen industrieller Produktion sukzessive zu konturieren. Der Blick in die (nahe) Zukunft lässt ländliche und häusliche Produktivität auch gegenwärtig fragil erscheinen. Klimawandel und Pandemien werfen bereits erste Schatten auf unsere globalisierte Versorgung. Wie werden Belastungsproben und kritische Szenarien verhandelt – und welche Perspektiven kann die Vergleichende Kulturwissenschaft künftig einnehmen? Im Ausblick gilt es grundlegende Positionen des Panels zu bündeln und gemeinsam Fluchtpunkte einer kulturwissenschaftlichen Agrar- und Ernährungsforschung zu diskutieren.