Panel H

Panel H | Reproduktion, Disruption, Transition. Was Menschen immer wieder tun

Panelleitung: Prof. Dr. Manuela Bojadzijev (Berlin), Dr. Bernd Kasparek (Berlin)

Mit den Alltagstheoretiker:innen Henri Lefebvre oder Ágnes Heller gedacht, rückt der Begriff des „Alltags“ die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Vordergrund. Damit ist hier auch die stoffliche Repro- duktion der Arbeitskraft gemeint: Essen, Schlafen, Pflege oder Erziehung, ebenso die kognitive Reproduktion — insgesamt also die vielen und komplexen Gründe dafür, morgens das Bett zu verlassen und verlassen zu können. Der Alltagsbegriff verbindet so verstanden das, was Leute immer wieder tun, mit der Frage danach, wie und warum sie das immer wieder tun, wie es zu Routinen und Verfestigungen, Veralltäglichungen und Infrastrukturisierungen kommt.

Vor dem Hintergrund multipler Krisen und Transformationen stellt sich nachdrücklich die Frage, wie das wiederholte Tun (Reproduktion) unterbrochen wird (Disruption), aber auch, wie es endlich auch beendet werden kann, um einen neuen Ausgang zu finden (Transition). Um gegenwärtigen und zukünftigen „planetarischen Krisen“ (Chakrabarty) zu entgegnen, brauchen wir offenbar veränderte Reproduktionsweisen, andere Alltäglichkeiten, gewagtes Experimentieren. Die Revolution, so meinte Lefebvre noch unmissverständlich, beginnt, wenn „die Leute … nicht mehr ihrer Alltäglichkeit leben können“ (1972, 51). Heute sind die Transitionsversprechen anderer Natur und unterliegen anderen Bedürfen, was neuer Untersuchungen bedarf.

In unseren ethnographischen und gesellschaftstheoretisch informierten Analysen sehen wir, dass diese veränderten Alltäglichkeiten bereits existieren, bereits jetzt geprägt und erfunden werden. Und wir beobachten sie dort, wo die Rhythmen des Alltags unterbrochen werden oder aus dem Takt geraten. In den disruptiven Umgangsund Adaptionsformen finden sich potentiell neue Veralltäglichungen.

Im Panel „Reproduktion, Disruption, Transition. Was Menschen immer wieder tun“ bringen wir Beiträge zusammen, die in unterschiedlichen Feldern Unterbrechungen des Alltags untersuchen und darbieten. In einer gemeinsamen Diskussion stellen wir konzeptuelle Überlegungen zu veränderten Reproduktionsweisen an. Rassismus, Arbeit und Migration bilden die Ausgangspunkte für unsere Suche nach alltäglichen Praktiken der Reproduktion, Disruption und Transition.

Die Beiträge beruhen auf aktuellen Forschungen und sind hinsichtlich der vorliegenden Fragestellung bislang nicht präsentiert und konzipiert worden. Sie werden auf Deutsch gehalten und können im Rahmen des Kongressbandes veröffentlicht werden.

 

Dr. Moritz Altenried, Mira Wallis M. A. (Berlin)
Die Verflüssigung der Zeit. Zeitliche Rekonfigurationen im Arbeitsalltag digitaler Plattformen

In seinem bahnbrechenden Aufsatz von 1967 beschreibt E. P. Thompson den Siegeszug des industriellen Kapitalismus als Revolution im Zeitdenken. Die Zeit wurde messbar und synchronisiert, zur „Uhr-Zeit“. Die kapitalistische Produktionsweise verlangte nach synchronisierten Arbeitszeiten und das sich verändernde Verständnis von Zeit transformierte Arbeit und Alltag kapitalistischer Gesellschaften. Stechuhr, Schichtarbeit und Arbeitsform der industriellen Fabrik stehen symbolisch für diese Rhythmisierung der Produktionsweise und des Alltagslebens.

Mit der Durchsetzung digitaler Technologien beginnen sich Zeitpraktiken und Rhythmen des Arbeitsalltags erneut zu verändern. Der Beitrag untersucht am Beispiel digitaler Plattformarbeit exemplarisch einiger dieser Ent- wicklungen. Digitale Plattformen und neue Technologien algorithmischen Managements erlauben eine zeit- räumliche Flexibilisierung von Arbeit. Arbeiter\*innen auf digitalen Plattformen arbeiten zeitlich flexibel: abends nach dem Erstjob, zwischen zwei Vorlesungen oder in flexibler Kombination mit reproduktiver Arbeit wie etwa Kindererziehung und Pflege von Angehörigen. Mithilfe von digitaler Kontrolle und einer Renaissance des Stücklohnprinzips wird Arbeitszeit „verflüssigt“ und verändert die Logik, die Grenze zwischen Arbeit und Leben verschwimmt wieder, die Frage sozialer Reproduktion stellt sich anders. Auf Basis unserer umfassenden ethnographischen Forschungen, analysiert der Beitrag wie sich Zeitpraktiken und -Logiken im Alltag von Plattformarbeiter\*innen rekonfigurieren. Darin finden sich neue (und sehr alte) Logiken der effizienten Vernutzung von Arbeitszeit durch Plattformunternehmen, wie auch kreative Praktiken und subversive Strategien von Arbeitenden.

Abschließend erlaubt die empirische Analyse sowohl eine Fortschreibung als auch Komplizierung von Thompsons Analyse. Die Zeitlogiken und Praktiken digitaler Plattformarbeit (und, so ließe sich argumentieren, einer zu- nehmend digitalisierten Arbeitswelt im Allgemeinen) nehmen überraschende Anleihen aus prä- und frühkapita- listischen Perioden und stellen so die Linearität in der Entwicklung von Arbeitszeit im Kapitalismus in Frage.

 

Prof. Dr. Manuela Bojadžijev (Berlin)
Digitale Kulturen: Zur Reproduktion rassifizierender Kategorien

Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass Künstliche Intelligenz, d. h. maschinelles Lernen nur auf dem beruhen kann, was längst existenter, bereits eingegebener, d. h. gewusster Teil der Maschine ist. Plastisch drückt diese Wiederholungschleifen die Medienwissenschaftlerin Wendy Chun mit dem Titel ihres Buches „Updating to remain the same“ aus.

Auch für die Rassismusforschung hat dies elementare Konsequenz. Denn, wenn immer das Gleiche sich technisch reproduziert, dann schließt das auch die rassistischen Klassifizierungen und Hierarchisierungen ein, die unseren Alltag prägen. Beispielhaft wird das an jüngeren Arbeiten zur Verbindung von Technologien und Rassismus (u. a. Ruha Benjamin; Simone Brown; Dalia Gebrial) deutlich, die die erschreckenden Alltagseffekte aufzeigen, die entstehen, wenn rassifizierte Codes in Seifenspendern und Gesichtserkennungssoftware eingebaut sind, wenn sie Soziale Arbeit und Strafverfolgung präfigurieren, wenn sie an Grenzkontrollen und in Abschiebeentscheidungen eingebunden sind und sie die Entscheidungen in der Plattformökonomie und von Dating Apps programmieren. Im technologisierten Alltagsleben kommt es auf Wiedererkennen und Wiederholen an.

Natürlich können und müssen wir die rassistischen Wissensordnungen darin befragen. Aber weil digitale Kulturen unseren Alltag in ihrer Materialität derart prägen, ja, ubiquitär geworden sind, können wir nicht einfach nur nach dem Wissen fragen, „welches das Verhalten in der Alltagswelt reguliert“ (Peter L. Berger/Thomas Luckmann). Wir müssen auch das Verhalten überprüfen, das ein bestimmtes Wissen produziert und reproduziert, das Menschengruppen differenziert, sie erkennt und immer wieder (er) lebt.

Die Frage nach dem Ausgang aus rassistischen Verhältnissen, ist eng mit dem Ende der Reproduzierbarkeit rassistischer Codes verknüpft. Was frühere rassistische Formation an Klassifizierung und Hierarchisierung in Naturalisierungsverfahren übersetzt haben, wird heute in den Horizont einer technologischen Funktionsweise projiziert, die sich pragmatisch und lösungsorientiert darstellt. Alte und neue Technologien treffen hier aufeinander und es stellt sich die Frage, ob und wie neue rassistische Formationen die älteren, vielleicht anders rassistischen Versionen und ihre reproduktiven Kapazitäten im Alltag untergraben und verdrängen, statt sie zu replizieren.
[Dieser Teilbeitrag muss leider entfallen, 25.9.23]

 

Alexander Harder M. A. (Berlin)
Das soziale Leben digitaler und computerisierter Infrastrukturen

Für die Zeit „nach der Pandemie“ hat die Europäische Union mit der „Recovery and Resilience Facility“ (RRF) den Plan gefasst, digitale und computerisierte Infrastrukturen auszubauen. Sie tut das, indem sie 800 Milliarden in das Konjunkturpaket „NextGenerationEU“ (NGEU) leiten möchte. Diese werden sich tief in die Texturen des Alltags einweben und schließen an bestehende Praktiken digitaler Kulturen an. Gegenstand der Erkundungen meines Beitrags sind die Verflechtungen von materiellen Infrastrukturen, sozialen Praktiken und kulturellen Imaginationen mit einer methodischen Sensibilität für das tägliche Leben und für alltägliches Verhalten (Appadurai 1986). Konkret geht es um die institutionellen Rahmen und die Policy-Paper, die von RRF/NGEU bereitgestellt werden.

Zum einen lässt sich an den „infrastrukturellen Imaginationen“ (Gabrys 2016), so die These, ablesen, wie die Visionen digitaler Regelkreise die Gegenwart und Transitionen in die Zukunft zu prägen gedenken. Zum anderen geht es bei diesem „Push to the Future“, so argumentiert die Medienwissenschaftlerin Wendy Chun (2016) um eine Reproduktion des Bestehenden. Infrastrukturen sind dann am wichtigsten, so Chun, wenn sie scheinbar gar keine Rolle spielen – wenn sie vom Modus „neu“ zum Modus „gewöhnlich“ gewechselt haben. Mein Vortrag geht dem Moduswechsel nach und fragt, welche die institutionellen, unternehmerischen und öffentlich-infrastrukturellen Imaginationen sind und wie sie die digitale Transformation verbreiten und gestalten (wollen). Welche veränderten Alltagspraktiken stellen sie in Aussicht?

 

Dr. Bernd Kasparek (Berlin)
Fundamentalökonomie, solidarische Infrastrukturen und demokratische Transition

„[D]ie meisten Bürger in Europa [nehmen] morgens Güter und Dienstleistungen in Anspruch, die von mehr als sechs separaten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen abhängen, die zusammen die alltägliche Infrastruktur des zivilisierten Lebens ausmachen“, schreibt das Foundational Economy Collective (2019: 50) in seinem Plädoyer für eine neue Infrastrukturpolitik „Die Ökonomie des Alltagslebens“. Weiter hält es jedoch auch fest, dass „[d]iese alltäglichen, aber unverzichtbaren Dienste […] auch in reichen kapitalistischen Demokratien nicht (mehr) selbst- verständlich“ sind (51). Dieser Befund, der nur wenige Jahre alt ist, hat sich durch die gegenwärtigen multiplen planetaren Krisen nur noch weiter zugespitzt. Die sich klar abzeichnende Klimakatastrophe, globale Pandemien, kollabierende Lieferketten auch in so essentiellen Bereichen wie Medizin und Computer-Chips und die Kriegs- führung in der Ukraine, die genau auf die essentiellen Infrastrukturen des alltäglichen Lebens (Strom, Wasser, Wärme) abzielt, unterstreichen, dass eine nachhaltige und verlässliche Infrastruktur der Daseinsvorsorge notwendiger denn je ist. Klar ist jedoch auch, dass es nicht lediglich um die Existenz technischer Infrastrukturen geht. Die Frage der Verfügbarmachung, des Zugangs zu diesen Infrastrukturen ist zugleich eine politische wie auch eine ökonomische.

Dies hat auch der Geschichtsschreiber der kapitalistischen Transformation, Karl Polanyi, festgehalten: „[D]ie wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen [ist] in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet“ (1978 [1944]: 75). In unserem Explorationsprojekt „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrations- gesellschaft“ haben wir diesen Zusammenhang in den Blick genommen, und zwar in den drei zentralen Feldern sozialer Reproduktion Arbeit, Gesundheit und Wohnen. Durch unsere empirischen Explorationen in diesen drei Feldern können wir zeigen, dass tatsächlich mannigfaltige Praktiken alter und neuer Solidaritäten existieren, diese aber nicht trivial auf planetare Ebene zu skalieren sind. Denn hierfür bedarf es nicht nur einer Strategie der Infrastrukturierung dieser Praktiken, um diese alltäglich, und nicht exzeptionell zu machen. Es bedarf tatsächlich auch einer ökonomischen Transition, wie sie etwa auch von dem Foundational Economy Collective skizziert wird: grundlegende Infrastrukturen der Daseinsvorsorge müssen dem Markt entzogen sein. Verbunden hiermit stellt sich auch die Frage, ob ein bedingungsloser Zugang zu Infrastrukturen, also eine Demokratisierung der Daseins- vorsorge, gleichzeitig auch andere Konzeptionen von Gesellschaft implizieren und Zugehörigkeit nicht länger über Herkunft oder Staatsbürgerschaft definieren.

Die Beiträge beruhen auf aktuellen Forschungen und sind hinsichtlich der vorliegenden Fragestellung bislang nicht präsentiert und konzipiert worden. Sie werden auf Deutsch gehalten und können im Rahmen des Kongressbandes veröffentlicht werden.

TU Dortmund

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

keuning haus

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
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