Prof. Dr. Gunther Hirschfelder (Regensburg)
Zeiten#wenden. Brauch als kultureller Taktgeber und kulturwissenschaftliches Konzept
Die kulturellen Praxen, welche die ältere Volkskunde als Brauch bezeichnet, haben sich in der Postmoderne gewandelt. Lange fungierten diese Ordnungssysteme als gesellschaftliche Regulative. Bräuche strukturierten den Jahres- und Lebenslauf und machten Zeit durch ihre Regelmäßigkeit erfahrbar. Zwar bewirkte schon die Säkularisierung einen schleichenden Bedeutungswandel, doch erst Deindustrialisierung, Globalisierung und Digitalisierung stießen tiefgreifende Transformationen an.
Hat das Konzept also analytisch ausgedient? Die Auseinandersetzung mit Bräuchen ist disziplinär zumindest in den Hintergrund getreten. Schon die Bezeichnung kommt antiquiert daher: Brauch, einst zentraler Begriff der Volkskunde, ist dem Vielnamenfach peinlich geworden. Der Appell „Brauchforschung tut not“ (Brückner 1998) verhallte eher ungehört. Qualifikationsarbeiten z. B. über Pfingsten werden mitunter als karrierehinderlich empfunden. Dabei gelten Volkskundler*innen als Expert*innen für Christkind, Osterhase & Co. – und werden journalistisch hochfrequent adressiert. Zumal das ökonomische Potenzial von Brauchterminen wie Karneval – mit einem Jahresumsatz von ca. zwei Milliarden Euro allein in Köln – eine deutliche gesellschaftliche Relevanz auch jenseits der Presserubrik „Vermischtes“ spiegelt.
Im frühen 21. Jahrhundert erfahren jene Phänomene, welche sich als weniger säkular, medienaffin und kommerzialisierbar erweisen (z. B. Fronleichnam) einen fortschreitenden Bedeutungsverlust. Andere, stärker motiv-, ideen- und lebensstilorientierte Sozialformate füllen das kulturelle Vakuum einer gleichermaßen digitalisierten wie ästhetisierten „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017). Wer soziale Verbindlichkeiten tradierter Vereinsstrukturen ablehnt, teilt gleichwohl ein Bedürfnis nach individueller und kollektiver Resonanzerfahrung (Rosa 2016). Das verdeutlichen Phänomene wie Public Viewing und Weihnachtsmärkte (Hirschfelder 2014). Die Corona-Pandemie dürfte die Dynamik der Brauchtransformation weiter beschleunigen – einschließlich pluraler Inwertsetzungen eines analogen und digitalen Soziallebens.
Der geplante Vortrag stellt die Analysekategorie Brauch auf den Prüfstand: Welche Rolle spielen Bräuche im Alltag? Inwieweit muss das „Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen“ (Drascek/Wolff 2016), von Tradition und Wandel, von analogem face-to-face-Kontakt und digital realisierten Praxen neu gedacht werden? Welche Phänomene lassen sich überhaupt digitalisieren, welche bleiben analog oder verschwinden? Sind Brauchmuster in bestimmten sozialen Konstellationen besonders erosionsanfällig? Was entsteht neu – und inwieweit greifen gleichwohl tradierte Muster? Und welche Effekte haben aktuelle Veränderungen schließlich für einen in vielfacher Hinsicht temporalisierten Alltag? Inwieweit entstehen neue Perspektiven, wenn sich im Brauch als kulturellem Taktgeber und kulturwissenschaftlichem Konzept Zeiten#wenden?