Prof. Dr. Timo Heimerdinger (Freiburg)
Zeitwohlstand – wenn weniger mehr ist
Der ab den 1980er Jahren zunächst in sozialwissenschaftlichen und ökonomischen (J. Rinderspacher / G. Scherhorn) Kontexten geprägte und gegenwärtig wieder verstärkt diskutierte Begriff des Zeitwohlstandes zielt auf die Frage nach lebensweltlichen Bedürfnishierarchien und Prioritätensetzungen. Bezugnehmend auf breit geteilte Beschleunigungs-, und Verdichtungsbefunde (H. Rosa) bestimmt er die Verfügbarkeit von Zeit als basale Wohlstandskategorie neben den Dimensionen der Ökonomie und des Raumes. Zeitwohlstand, verstanden als individuelle Gestaltungs- und Verfügungsmöglichkeit, ist in eine komplexe alltagsweltliche Ökonomie eingebunden und vielfach nur um den Preis des Verzichts auf andere Güter wie Arbeits-, Konsumgewohnheiten oder Geld zu haben.
Der Vortrag rekonstruiert die Praxis des Zeitwohlstandes ethnografisch anhand von aktuellen Befragungen und Beobachtungen von Personen in Berlin und Südbaden, u. a. auch solchen, die sich selbst als „Minimalist:innen“ sehen. Gerade in dieser Gruppe ist die Idee des Zeitwohlstandes besonders populär. Alle hier zu Wort kommenden Interviewpartner:innen eint, dass sie – sei es als Angestellte, Selbstständige oder Freischaffende – für mehr Zeitwohlstand bewusst auf Möglichkeiten der Einkommenssteigerung verzichten. Wie artikulieren diese Menschen ihre Entscheidungen vor dem Hintergrund subjektiver Selbstentfaltung- und Zeitwohlstandsziele? Welche lebensweltlichen Abwägungen und Einschränkungen stehen dem Zugewinn an verfügbarer Zeit gegenüber und in welchen konkreten Praktiken manifestiert sich der angestrebte Zeitwohlstand alltagskulturell? Was bedeutet dies schließlich für ein alltagskulturwissenschaftliches Zeitverständnis im Rahmen der aktuellen Postwachstumsdebatte?