Plenarvortrag I

Eröffnungsvortrag

Prof. Dr. Daniel Drascek (Regensburg)

Zur Temporalität von Kultur. Zeitforschung als kulturwissenschaftliche Herausforderung

Der alltägliche Umgang mit Zeit, die Interpretation des Zeiterlebens und die Wahrnehmung von Temporalität gehören zu den grundlegenden Bedingungen menschlichen Handelns. Dabei ist Zeit in individueller und sozialer Perspektive keine naturgegebene Größe, sondern in komplexe kulturelle Ordnungsleistungen eingebunden. Auch wenn es letztlich so viele verschiedene zeitlich strukturierte Alltage wie Menschen gibt, so verfügt doch jede Gesellschaft über kulturell codierte Zeitvorstellungen, die einem laufenden Wandel unterliegen. Ein reflektiertes Verständnis für die Art und Weise zu entwickeln, wie verschiedene „Kulturen mit Zeit umgehen“ (Robert Levine), ist keineswegs trivial.

Die modernen Zeitkulturen, wie sie sich seit dem 18./19. Jahrhundert in der westlichen Welt ausgebildet haben, werden vor allem durch eine sukzessive Ablösung zyklischer durch lineare Zeitstrukturen charakterisiert und die mechanische Räderuhr zum Symbol für eine industrialisierte Gesellschaft. Vertraute raum-zeitliche Relationen gerieten durch moderne Fortbewegungsmittel, medientechnische Entwicklungen und wissenschaftliche Theorien ins Wanken. Jedoch erwies sich die Hoffnung, dass sich durch eine konsequente Orientierung an Uhren Zeit gewinnen und kontrollieren lässt, als Illusion. Nachdem sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Gefühl einstellte, an den Grenzen der Beschleunigung und der Verdichtung des Zeitgitters angekommen zu sein und die alltägliche Hetze als ein Grundübel der Zeit ausgemacht wurde, zielen Gegenentwürfe auf eine Entschleunigung und ein Leben nach natürlichen Rhythmen. Die Sehnsucht nach Zeitsouveränität geht mit Versuchen einher, sich den alltäglichen Zeitzwängen durch eine entsprechende Freizeitgestaltung und durch neue Formen der Erwerbsarbeit zu entziehen. So begleitet die gesellschaftliche Entwicklung bis heute eine permanente Suche nach adäquaten Zeitkulturen.

Es ist ein faszinierendes Forschungsfeld, dem sich die interdisziplinäre Zeitforschung widmet, die sich aufgrund der Fülle an Studien, Konzepten und Diskursen kaum mehr überblicken lässt. Insofern stellt sich die Frage, was unser Fach zur Zeitkulturforschung beizusteuern vermag und welchen Stellenwert diese besitzt. Durch eine kurze Zeitreise soll exemplarisch beleuchtet werden, was in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen geleistet worden ist und vor welchen Herausforderungen die kulturwissenschaftliche Zeitforschung steht.

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