Plenarvortrag IV

Prof. Dr. Moritz Ege (Zürich /CH)

Interregnum? Krisendiagnosen und Zeit-Horizonte in aktuellen Protestbewegungen

Seit einigen Jahren kursiert in gegenwartsanalytischen Diskussionen (wieder) der Begriff des Interregnums. Antonio Gramsci hatte in den 1920er-Jahren ein Verständnis dieses Begriffs etabliert, das auf Übergangszeiten in einem umfassenden Sinn abzielt. Ein so verstandenes Interregnum ist von der Auflösung kulturell-politischer Hegemonien gekennzeichnet – und von „morbiden Symptomen“. Das war angesichts des Faschismus eine euphemistische Einschätzung. Solche Begriffe, die klare zeitliche Einteilungen vornehmen und aus der Komplexität von Auseinandersetzungen einen linearen Ablauf von Phasen (Vorher [alter Kompromiss] – Interregnum – Nachher [neuer Kompromiss]) herauspräparieren, scheinen aber auch viele Gegenwartsphänomene zu beschreiben. Gleichzeitig tragen sie dazu bei, Dringlichkeit herzustellen und Komplexität zu reduzieren – was genau geht zu Ende? Und sie treiben die historische Erzählung voran: Als begrifflicher Cliffhanger verspricht „Interregnum“, dass auf die Zwischenphase eine Auflösung folgt.

In den USA wurden solche Diagnosen besonders an der Wahl Donald Trumps und dem, was darauf folgte, festgemacht. Ein Interregnum bemisst sich aber nicht nur an Amtsperioden, es geht auch aus Turbulenzen des Zeitempfindens hervor, deren Gestalt und Grenzen weniger leicht festzumachen sind. John Clarke zufolge ist für den gegenwärtigen Moment nicht zuletzt charakteristisch, dass keine zeitliche Logik es vermag, sich die widerstrebenden Zeitlichkeiten gleichermaßen unterzuordnen. Gerade darin besteht ein zentraler kultureller Aspekt einer sich erschöpfenden Hegemonie. Wie lassen sich nun Interregnums-Diagnosen und solche Überlagerungen von Zeitlichkeiten zusammendenken? Ausgangspunkt für den Vortrag, der genau das versucht, sind Beobachtungen über Proteste gegen und für die Trump-Regierung und ihr Ende, in denen epochale Übergangsszenarien zitiert, entworfen und verhandelt werden. Der Vortrag folgt nostalgischen, dystopischen, perfektibilistischen, eschatologischen Periodisierungen von kultureller und politischer Geschichte und fragt nach ihrer Performativität: nach den „political-cultural struggles for the power to ‚tell the time‘.“ (Clarke, ebd.).

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