Sektion 1

Zeitordnung und Zeitwissen

PD Dr. Caroline Rothauge (Eichstätt, Greifswald)

Zum Scheitern temporaler Ordnungsvorschläge: die 24-Stundenzählung und Kalenderreformen im Deutschen Kaiserreich um 1900

Die Jahrzehnte „um 1900“ gelten in der Neueren und Neuesten Geschichte als Phase „eines tiefen historischen Umbruchs“ (Nolte 1996, S. 285). Hier ballten sich nicht zuletzt unterschiedliche Vorstellungen von ‚Zeit‘ sowie Fragen zu ihrer Nutzung, die breit und transnational diskutiert wurden. Seitdem haben sich einige „abstrakte“ Formen der Zeitangabe und -ordnung durchgesetzt, die wir heute – als Folge von Naturalisierungseffekten – für selbstverständlich erachten. Entsprechend erscheint der temporale Transformationsprozess, der in den westlichen Industrieländern um 1900 beträchtlich an Fahrt aufnahm, Vielen aus der Retrospektive als ebenso zwangsläufig wie erfolgreich und abgeschlossen. Eine genauere historiographische Untersuchung vermag aber, Brüche, Diskontinuitäten und Kontingenzen dieses äußerst dynamischen Prozesses herauszuarbeiten, der sich vielmehr überaus langwierig und holprig gestaltete.

Beispielhaft geschieht dies anhand eines quellenbasierten Fokus auf einige der temporalen Optimierungsbestrebungen, die sich im späten Deutschen Kaiserreich nicht durchzusetzen vermochten, darunter die 24-Stundenzählung und unterschiedliche Vorstöße zur sogenannten Kalenderreform. Worin liegen die Gründe für den Misserfolg dieser Versuche, ‚Zeit‘ in Deutschland um 1900 zu definieren bzw. zu regulieren? Gerade der Blick auf ihr Scheitern verdeutlicht zum einen, dass stets mehrere Auffassungen von ‚Zeit‘ und ihres Gebrauchs in Konkurrenz zueinanderstehen. Zum anderen lässt sich so veranschaulichen, dass die Arten und Weisen, wie Zeiten verstanden, systematisiert und genutzt werden, sich je nach Kontext wandeln und somit historisierbar sind.

 

Dr. Theresa Perabo (Mainz)

Mehr als graue Theorie? Zeit als analytische Kategorie bei Wilhelm Mannhardt

Eine Faustregel besagt: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum. Das Bonmot verweist auf einen Gegensatz zwischen Theorie und Praxis, wobei die Deutung zugunsten der Praxis, also der erlebten Erfahrung, auszulegen ist. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wird jedoch sehr schnell deutlich, dass wesentliche Impulse für Erkenntnis immer auch von theoretischen Entwürfen ausgegangen sind. Mein Vortrag beschäftigt sich mit einem Jünger der Wissenschaft, nicht Dr. Heinrich Faust, sondern Dr. Wilhelm Mannhardt (1831–1880) und seinem wissenschaftlichen Programm, für das Zeit ein zentrales Element bildete.

Mannhardt ist Teil der volkskundlichen Fachgeschichte und dabei insbesondere für zwei Aspekte prominent: seine Sammlung der Ackerbräuche und Erntesitten, die mit dem Titel Bitte als Grundlegung der empirischen Arbeit im Fach gilt, und sein Werk Wald- und Feldkulte, eine Zusammenstellung von Bräuchen und Erzählungen zum Thema Baum. Als Theoretiker ist er nicht bekannt. Dabei wollte auch er wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Mannhardt entwickelte ein Modell der Mythenentwicklung, wobei er einen Wandel mythischer Ausdruckformen erkannte. Im Gegensatz zur romantisch-mythologischen Schule betrachtete Mannhardt sein Objekt dezidiert als historisch. Seine Überlegungen weitete er von Erzählformen auf andere Phänomene aus und entwickelte in Anlehnung an zeitgenössische evolutionistische Modelle eine eigene Theorie über die Entstehung, Entwicklung und Verbreitung kultureller Ausdrucksformen. Niedergelegt hat er seine Auffassung in einer bislang unbekannten Denk- und Bittschrift Über das Studium der Volksüberlieferung (ca. 1864), die sich in seinem Nachlass, aufbewahrt in der Staatsbibliothek zu Berlin, befindet und im Rahmen meiner Dissertation hauptsächlich unter wissenschaftspolitischen Aspekten untersucht wurde.

Im Mittelpunkt meines Vortrags steht die Relevanz der Zeit als analytische Kategorie von Mannhardts Modell. Untersucht werden Konzeptualisierungen der Zeit und wie das Zeit-Konzept dazu diente, neue Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen herzustellen, um diese überhaupt erst als Gegenstände des wissenschaftlichen Interesses sichtbar zu machen. Ziel ist eine Rekonstruktion der theoretischen Grundlagen für die praktische Forschung und der Versuch einer Einordnung seines Modells im Rahmen kulturwissenschaftlicher Theorien.

 

Julian Schmitzberger M.  A. (Zürich/CH)

Work-Nightlife-Balance. Grenzgänge zwischen den Zeitordnungen des ­Alltags und des urbanen Nachtlebens

Clubs und Diskotheken verheißen eine Welt jenseits von konventionellen Zeitregimen. Zwar haben Partys typische Verläufe und Spannungsbögen, doch beim „Feiern“ ist der Zeitdruck temporär suspendiert. Für viele steht das Tanzen in einem Club für das Leben im Hier und Jetzt. Die „Partymetropole“ Berlin ist dafür bekannt, dass ihre Nächte länger sind als anderswo und gewissermaßen ein ganzes Wochenende überdauern können. Dieser zeitlichen Entgrenzung werden bestimmte Qualitäten beigemessen: sie symbolisiert eine Form von Freiheit, ihr wird zugeschrieben besondere Atmosphären zu ermöglichen.

Die im Nachtleben versprochene Erlebnisintensität lässt sich jedoch nicht grenzenlos dehnen, jede Party findet früher oder später ihr Ende. Wenn sich die Logik der Nacht und des Tages überlappen, treten Reibungen zwischen den verschiedenen Zeitordnungen auf. Die Grenzüberschreitungen zwischen der Sphäre der Clubkultur und des sonstigen Alltags, der von Erwerbsarbeit oder der Vorbereitung darauf bestimmt ist (beziehungsweise sein sollte), spiegeln weitreichendere kulturelle Konflikte wider. Pop- und Populärkultur stehen in einem Spannungsfeld zwischen der Bewertung als kompensatorischer Flucht vor gesellschaftlichen Ansprüchen und Zwängen und als Ressource, die neue Potentiale und Sinngehalte eröffnet – solche Deutungen finden sich in wissenschaftlichen Klassikern und unter den Akteur*innen gleichermaßen.

Diesen Zusammenhängen nähere ich mich in diesem Vortrag – vor dem Hintergrund eines Forschungsstandes von eher szenenorientierten Ethnografien oder soziologischen Großdiagosen – vor allem empirisch, aus der „Normalität“ großstädtischer Clubabende. Auf der Basis ethnografischer Feldforschung und leitfadengestützter Interviews analysiere ich die zeitliche Dimension des Partymachens: Ich thematisiere wie Zeit geplant, gedeutet und gestaltet wird – sowohl im Kontext einzelner Veranstaltungen als auch darüber hinaus. Welche Impulse und Prägekräfte gehen von einer Partynacht in der Perspektive der jeweiligen Akteur*innen aus? Welche Welchselwirkungen gibt es mit anderen Lebensbereichen und wie navigieren sie zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und clubkulturellen Wertevorstellungen? Wie moderieren sie zwischen dem Sog der Clubwelt und dem Druck der Alltagswelt, samt der jeweils geltenden Normen und Regeln?

 

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