Sektion 10

ZeitRäume

Dr. Tobias Scheidegger (Zürich /CH)

Vulnerable Alteingesessene und resilientes Zukunftsgrün. Neophyten und pflanzliche Zeitlichkeit im Anthropozän

Neophyten, also nicht-endemische Pflanzen, sind Gegenstand kontroverser Debatten. Mit Blick auf Zeitkulturen, die an besagtem Grün verhandelt werden, bilden die Neophyten eine Doppelfigur. Einerseits verweisen sie durch ihre Definition („nach 1492 eingeführt“) wie durch einschlägige Restaurierungspraktiken in die Vergangenheit. Andererseits evozieren die Populationsdynamiken und Resilienzen einiger – speziell der „invasiven“ – Neophyten immer auch Vorstellungen des Zukünftigen. In meinem Beitrag möchte ich diese pflanzlichen Zeitlichkeiten als Substrat gegenwärtiger Aushandlungen von Natur, ihrer Wandlungen und Bedrohungen beleuchten und Neophyten als Begleitgrün des globalen Klimawandels kontextualisieren.

Ein erster Teil fokussiert auf die vergangenheitsorientierten Sichtweisen, die in der Neophytenabwehr des heutigen Naturschutzes zum Ausdruck kommen. Entgegen dominanter kulturwissenschaftlicher Deutungen sollen diese jedoch nicht als Reaktivierung älterer Natur(schutz)konzepte wie Eigenart oder Bodenständigkeit und als politisch fragwürdige Bezugnahmen auf Abstammung und Zugehörigkeit interpretiert werden. Vielmehr wird aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf den (Stadt-)Naturschutz ab den 1980ern gezeigt, wie sich in der aktuellen Abwehr von invasiven Neophyten (auch) Werte wie Diversität oder Toleranz spiegeln, die stark im Alternativmilieu jener Jahre wurzeln.

Ein zweiter Teil widmet sich den zukunftszugewandten Aspekten. Als manichäische Gewächse stehen Neophyten für kommende Bedrohung wie Errettung gleichermassen, wobei ich primär auf die Neophyten als grüne Zukunftshoffnung fokussiere. Vereinfacht existieren zwei Modi solcher Zukunftsvisionen: Einerseits eine technokratische Perspektive, welche vor dem Hintergrund des Klimawandels in Szenarien und Master-Plänen denkt und beispielsweise auf ausgewählte nicht-endemische Baumarten als resiliente Begrünungselemente des zunehmend heiss-trockenen Stadtraums setzt. Der andere Modus der Zukünftigkeit sind Dys-/Utopien populärer, wissenschaftlicher wie künstlerischer Provenienz. Ihnen gemein ist eine Umwertung der negativ konnotierten Neophyten und deren romantische Stilisierung als zähe und hoffnungsvolle Gewächse, die selbst die versehrten Ruinenlandschaften des Anthropozän zu beleben und schliesslich auch die Menschheit zu erretten vermögen.

Der Beitrag steht im Kontext meines laufenden Habilitationsprojekts „Urbane Naturen. Stadtnatur als Medium stadtgesellschaftlicher Selbstverständigung. Zürich, 1980 –2020“. Die Arbeit verfährt historisch-archivalisch sowie mittels Oral History- und diskursanalytischen Zugängen, ihr Quellenkorpus umfasst u. a. archivalische Materialien städtischer Naturschutzbewegungen, der Stadtverwaltung, der Alternativszene, sowie schriftliche Dokumente aktueller Akteure.

 

Dr. Oliwia Murawska (Innsbruck /AUT)

Vom Grauen des Feldweges, Schäumen des Sees und Rutschen des Hügels. Zeitigungen einer kaschubischen Landschaft
[update, 25.02.2022]

Die Zeitlichkeit einer Landschaft lässt sich aus ihren Objekten und Materien explizieren. Für eine Kulturanthropologin bedeutet dies, das materielle Landschaftsgefüge zunächst auf sich zukommen zu lassen, um dann mit einem sinnlich-ethnografischen Ansinnen an es heranzutreten. In der Unmittelbarkeit des „stimmungsmäßig flackernden Sehen[s]“ (Heidegger) beginnen die Objekte und Materien zu vibrieren (Bennett) und geben die in ihnen poietisch (Ferrando) angelegten sowie von außen ihnen aufgetragenen Rhythmen preis.

Aus einer dwelling perspective (Ingold) und mit einem posthumanistischen Ansatz hebe ich drei Elemente eines kaschubischen Landschaftsgefüges aus dessen verschwommener Unbestimmtheit, um sie auf ihre Zeitigungen hin zu befragen. Die Auswahl der Elemente folgt den sich mir im Feld zeigenden, mich affizierenden Materien, die beim nahen Herantreten kollidierende und kontrakreative Zeitflüsse offenbaren: Der sandige, in der Akkumulation unzähliger Fußspuren gewordene Feldweg, der nun vom grauen Asphalt bedeckt in ein Netz befahrbarer Straßen gestellt ist; der eutrophierende See, dessen schäumende Materie seinen eiszeitlichen Ursprung verschleiert und die Dynamik der menschengemachten, von anthropozänen Prozessen beschleunigten Veränderungen bezeugt; der Hügel, der, in die landwirtschaftliche Praxis eingebunden, mit schwerem Gerät aufgeschichtet wird, gleichwohl er bei heftigem Regen ins Rutschen gerät. Wie erinnern, erfahren und entwerfen die in das konkrete landschaftliche Setting eingelassenen Menschen die Zeitflüsse der drei Objekte? Wie werden ihre Zeitvorstellungen von der Landschaft strukturiert und wie schreiben sich ihre Zeitvorstellungen in die Landschaft ein? Welche Rolle spielen hierbei Stimmungen?

Die Aufmerksamkeit für die Zeitlichkeit einer Landschaft entzündet sich besonders an den schäumenden, rutschenden oder erodierenden Rändern ihrer Objekte, an denen Veränderungen und Störungen kontrastierend zur Abhebung gelangen, schließlich wird „Zeit als Zeit erst auffällig […], wenn sie bei ihrem gleichmäßigen Verfließen gestört wird.“ (Sloterdijk) Die unterschiedlichen Zeitigungen der Landschaft erleben wir, und dies gilt es insbesondere im ethnografischen Prozess zu reflektieren, weniger chronologisch als vielmehr kairologisch, denn im Raum lesen wir in je gestimmter Aufmerksamkeit die Zeit.

 

Dr. Jens Adam (Bremen)

Urbane Moderne(n) zusammenfügen. Temporale Muster des Stadtmachens im „post-kosmopolitischen“ Lviv

Was lernen wir über die soziomateriellen Bedingungen und zeitlichen Verläufe städtischer Transformationen, wenn wir die Co-Präsenz und Überlappungen unterschiedlicher ‚Projekte urbaner Modernität‘ in das Zentrum der Analyse stellen? Die empirische Basis zur Diskussion dieser Frage bietet das westukrainische Lviv/Lemberg – eine Stadt, in der sich in der jüngeren Vergangenheit verschiedene imperiale Formationen und politische Ideologien, Staats- und Urbanisierungsprozesse kreuzten und bis heute vielfältige Spuren im Stadtraum hinterlassen haben. Zeitgenössische Prozesse und Praxen der Stadtgestaltung greifen hier im starken Maße auf die Relikte vergangener politischer Konstellationen zurück: ‚Stadtmachen‘ bedeutet, mit deren materiellen, imaginären und sozialräumlichen Hinterlassenschaften umzugehen und sie in neue, kontemporäre Arrangements einzufügen.

Wie solche Rekonfigurationen hervorgerufen werden und welche Rolle hierbei die Hinterlassenschaften zeitlich gestaffelter Projekte urbaner Modernität spielen, werde ich anhand einer empirischen und analytischen Gegenüberstellung dreier Settings städtischer Mobilität untersuchen:

  • dem zwischen 1976 und 1980 erbauten zentralen Busbahnhof als exponiertem Beispiel für die ‚angehaltenen‘ Zukunftsversprechen sowjetischer Urbanisierung;
  • der Straßenbahnlinie 8 als zentraler Verbindungslinie zwischen der größten staatssozialistischen Neubausiedlung und der Altstadt, deren Bau durch die politischen Umbrüche 1989/91 ins Stocken geriet und erst mit über zwanzigjährigen Verspätung im Rahmen eines europäischen Planungs- und Finanzierungsgefüges realisiert werden konnte;
  • dem ‚Wunderzug‘, der Tourist_innen eine bequeme Rundfahrt zu den zentralen Sehenswürdigkeiten anbietet und zugleich zu einer Re-Inszenierung von Lviv entlang der Ästhetiken und Imaginationen mitteleuropäischer Urbanität beiträgt.

Unter Rückgriff auf zwei Konzepte von „städtischer Kosmopolitik“ und „Post-Kosmopolitismus“ werden auf dieser Basis politische Prozesse und temporale Muster des Zusammenfügens einer zeitgenössischen Stadt sichtbar werden. Von besonderem Interesse sind hierbei Bezugnahmen auf „Europa“, das sich – entweder in der (habsburgischen) Vergangenheit oder in einer noch vagen Zukunft verortetet – hierbei als ein maßgebliches Strukturierungsmoment zeigt.

Der Beitrag beruht auf Materialien und Beobachtungen, die im Zuge einer im Jahr 2016 begonnenen ethnografischen Langzeitbeobachtung der Stadt Lviv/Lemberg gesammelt worden sind.

TU Dortmund

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

keuning haus

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
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