Sektion 2

Temporalitäten ethnografieren

Dr. Jan Hinrichsen (Innsbruck /AUT)

Immunität und Biotechnologie der Zukunft. Zur Wissensanthropologie mRNA-basierter Impfstoffe gegen SarsCoV2

Krisen stauchen Zeit – sie machen die Verfügbarkeit zeitlicher Ressourcen, Dauer und Geschwindigkeit sozio-kultureller Prozesse zum Problem. Nicht nur droht der Ausnahmezustand zum Dauerzustand zu werden („Normalität mit Corona“). Getragen und beschleunigt von massivem gesellschaftlichem, politischen wie ökonomischem Erwartungsdruck wird nach einem marktreifen Impfstoff gesucht, dessen flächendeckende Verfügbarkeit als Wasserscheide einer möglichen Normalität nach Corona verhandelt wird. Dabei ist die bio-technologische Entwicklung eines Impfstoffes gegen SarsCoV2, die biopolitische Praxis der Immunisierung, wie auch das Konzept der „Immunität“ selbst eingebunden in und bestimmt von „Zukunftspraktiken“, das heißt in Praktiken, die Temporalität und das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft problematisieren und ordnen.

1. In der biotechnologischen Forschung und Entwicklung, besonders aber in der klinischen Erprobung eines Impfstoffes, schlägt sich die Pandemie als Verknappung zeitlicher Ressourcen und als Beschleunigung zeitlicher Abläufe nieder. Die Zukunft übt Druck auf die Gegenwart aus: Testzyklen und -praktiken, Studienverläufe, Ergebnissicherung und -publikation sind in zeitliche Strukturen eingebunden und durch diese bedingt.

2. Immunisierung ist die zentrale biopolitische Praxis der Regierung von Zukunft, eines „governing through time“ (Samimian-Darash). Vermittels gegenwärtiger Interventionen in den Körper – wie bspw. der Immunisierung gegen SarsCoV2 –, werden diese für die und in der Zukunft regierbar gemacht; aus einer ungewissen und unsicheren Zukunft wird durch Immunisierung eine erwartbare, kalkulierbare und regierbare.

3. Mit dieser temporalen Logik der Biopolitik aufs Engste verknüpft ist die zeitliche Dimension des Immunsystems. Immunsysteme sind somatische Gedächtnisse, die den gegenwärtigen Körper für die Zukunft sensibilisieren und ihn so für die Erfahrung des Zeitlichen affizieren.

Aus der Perspektive der Wissensanthropologie und der STS (Science and Technology Studies) verhandelt das vorgeschlagene Paper den Zusammenhang zwischen Immunität und Zukunft und begreift dabei ersteres als die Problematisierung der Temporalität der letzteren. Die Argumentation basiert auf ersten Ergebnissen einer ethnographischen Begleitung einer klinischen Studie zu einem mRNA-basierten Impfstoff gegen SarsCoV2 eines deutschen Biotechnologie-Unternehmens und einer infektionsmedizinischen Forschungseinrichtung einer deutschen Universität.

 

Julian Schmitzberger M.  A. (Göttingen)

Work-Nightlife-Balance. Grenzgänge zwischen den Zeitordnungen des ­Alltags und des urbanen Nachtlebens

Clubs und Diskotheken verheißen eine Welt jenseits von konventionellen Zeitregimen. Zwar haben Partys typische Verläufe und Spannungsbögen, doch beim „Feiern“ ist der Zeitdruck temporär suspendiert. Für viele steht das Tanzen in einem Club für das Leben im Hier und Jetzt. Die „Partymetropole“ Berlin ist dafür bekannt, dass ihre Nächte länger sind als anderswo und gewissermaßen ein ganzes Wochenende überdauern können. Dieser zeitlichen Entgrenzung werden bestimmte Qualitäten beigemessen: sie symbolisiert eine Form von Freiheit, ihr wird zugeschrieben besondere Atmosphären zu ermöglichen.

Die im Nachtleben versprochene Erlebnisintensität lässt sich jedoch nicht grenzenlos dehnen, jede Party findet früher oder später ihr Ende. Wenn sich die Logik der Nacht und des Tages überlappen, treten Reibungen zwischen den verschiedenen Zeitordnungen auf. Die Grenzüberschreitungen zwischen der Sphäre der Clubkultur und des sonstigen Alltags, der von Erwerbsarbeit oder der Vorbereitung darauf bestimmt ist (beziehungsweise sein sollte), spiegeln weitreichendere kulturelle Konflikte wider. Pop- und Populärkultur stehen in einem Spannungsfeld zwischen der Bewertung als kompensatorischer Flucht vor gesellschaftlichen Ansprüchen und Zwängen und als Ressource, die neue Potentiale und Sinngehalte eröffnet – solche Deutungen finden sich in wissenschaftlichen Klassikern und unter den Akteur*innen gleichermaßen.

Diesen Zusammenhängen nähere ich mich in diesem Vortrag – vor dem Hintergrund eines Forschungsstandes von eher szenenorientierten Ethnografien oder soziologischen Großdiagosen – vor allem empirisch, aus der „Normalität“ großstädtischer Clubabende. Auf der Basis ethnografischer Feldforschung und leitfadengestützter Interviews analysiere ich die zeitliche Dimension des Partymachens: Ich thematisiere wie Zeit geplant, gedeutet und gestaltet wird – sowohl im Kontext einzelner Veranstaltungen als auch darüber hinaus. Welche Impulse und Prägekräfte gehen von einer Partynacht in der Perspektive der jeweiligen Akteur*innen aus? Welche Welchselwirkungen gibt es mit anderen Lebensbereichen und wie navigieren sie zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und clubkulturellen Wertevorstellungen? Wie moderieren sie zwischen dem Sog der Clubwelt und dem Druck der Alltagswelt, samt der jeweils geltenden Normen und Regeln?

 

Marie Rodewald M.  A. (Hamburg)

Herausforderungen des Being Then in der Onlineethnografie. Zur Erforschung der rechtsextremen ‚Identitären Bewegung‘ in Echtzeit

Die ‚Identitäre Bewegung’ ist ein rechtsextremes Phänomen, das vor allem in den sozialen Netzwerken aktiv ist und seine Hochphase von Januar 2016 bis ins Frühjahr 2019 erlebte. Im Rahmen meiner Doktorarbeit erforschte ich diese Phase mit onlineethnografischen Methoden.

Die amerikanische Anthropologin Patty Gray brachte 2016 ein zeitliches Dabeisein, ein Being Then, in die Methodendiskussion zum ethnografischen Forschen im Internet ein. Sie versteht darunter eine analoge Methode zum örtlichen Dabeisein des Being There und argumentiert, dass die Forschungserfahrungen sich in einer Online­ethnografie aufgrund der Unmittelbarkeit ebenso in den Körper einschreiben können wie in einer klassisch verstandenen Forschung. Gray legitimiert ihre aus räumlicher Entfernung stattfindende Forschung als ebenso ‚tief beschreibend‘ und relevant, wie es eine stationäre Teilnehmende Beobachtung wäre.

Doch auch im Being Then verbergen sich Tücken.

So lässt sich das Internet zum Beispiel als ein unzuverlässiges Archiv verstehen: Einen gewissen Archivcharakter besitzt es deshalb, weil mit wenigen Schlagworten zu fast jedem erdenklichen Thema digitale Dinge gefunden werden können, die zudem einer spezifischen Ordnung unterliegen. Unzuverlässig ist dieses ‚Archiv‘, weil unterschiedlichste Akteur:innen, angefangen von den Verfasser:innen selbst, die Beiträge nachträglich löschen oder verändern können. In Abhängigkeit von Algorithmen sortiert sich ‚das Internet‘ außerdem um und verändert so die quasi archivalische Ordnung. Dies geschieht in einem komplexen Zusammenspiel zwischen menschlichen und technischen Akteuren und der Kampf um Aufmerksamkeit und Reichweite ist dabei ebenso Ziel wie Strategie.

Wie schafft man es als qualitativ arbeitende Forscherin, die neuen Posts und sich verändernden Kommentarspalten gleichermaßen ‚in Echtzeit‘ zu beobachten? Was bedeutet Being Then in diesem Kontext? Wie gehen Forscher:innen mit verpassten Momenten um, von denen sie eventuell nicht einmal Kenntnisse haben, aber davon ausgehen müssen, dass es sie gab?

Wir wirkt es sich auf die Datenerhebung aus, wenn Zugänge zum Feld immer wieder von innen und außen beschnitten werden? Wie wird die Kategorie Zeit im Zusammenhang mit Wandel und Dynamiken im Feld schließlich angemessen in den Forschungsergebnissen abgebildet?

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