Sektion 3

Sektion 3 | Routinen reflektieren

Lucia Sunder-Plassmann M. A. (Cloppenburg)
Einsatz „für den guten Zweck“. Missionsunterstützung katholischer Frauen im Oldenburger Münsterland

Circa 300 Frauen zogen zwischen 1900 und 1960 aus dem katholisch geprägten Oldenburger Münsterland (OM) in ‚überseeische Gebiete‘ aus, um den – von den dort bereits tätigen, männlichen Missionaren verschmähten – weiblichen Bereich der „christlichen Zivilisierungsmission“ (s. Hölzl 2021) zu übernehmen. Sie betrieben Schulen, Krankenhäuser und weitere Elemente von Care-Work. Über Jahrzehnte wurden ihre Tätigkeiten mit vielseitigen Sach- und Geldspenden durch hiesige Missionshandarbeitskreise unterstützt. Alltägliches Handarbeiten wurde so zum christlichen Liebesdienst. Noch heute lassen sich entsprechende Initiativen ausmachen, vor allem in kleineren Dörfern der Region. Dabei stellen Frauen gemeinschaftlich ganzjährig Handarbeiten her und verkaufen diese auf einem von ihnen organisierten, im Advent stattfindenden ‚Missionsbasar‘, dessen Erlös in die Mission bzw. – aufgrund des Versterbens der letzten Missionarinnen aus den jeweiligen Orten – vermehrt in osteuropäische und lokale Wohlfahrtsprojekte fließt. Wie erklärt sich die Weiterexistenz jener, den Alltag der Frauen durchziehenden Basarkultur im 21. Jahrhundert – trotz Attraktivitätskrise der katholischen Kirche und inmitten der seit geraumer Zeit anhaltenden dekolonialen oder „White Savior Complex“- (Cole 2012) Debatten? Ein Grund scheint das trans- formierte Verständnis der Frauen von Mission als ‚dem Bedürftigen helfen‘ zu sein. Der als christliche Tugend sozialisierte Einsatz „für den guten Zweck“, eine stetig wiederholte Aussage meiner Interviewpartner*innen, scheint jene, über Jahrzehnte tradierte Handlungen im Sinne des „schon immer“ (s. Bausinger 1982) unhinterfragt zu legitimieren. Als Teil des Forschungsprojektes zu ‚Missionarinnen aus dem OM‘ erfolgt mit diesem Forschungs- vorhaben eine zeit-räumliche Kontextualisierung jenes Phänomens mit Hilfe qualitativ-narrativer Interviews mit Leiter*innen von Missionshandarbeitskreisen, sowie teilnehmender Beobachtung auf Missionsbasaren und Handarbeitstreffen katholischer Frauen im OM. Dabei wird die Entwicklung der regionalen Missionsunterstützungs- kultur sowie ihre Bedeutung für bzw. Prägung des Alltags der Frauen untersucht und der jeweiligen Motivation ihres unentgeltlichen Einsatzes im Kontext ihrer alltäglichen, christlichen Lebenswelt nachgespürt – auch mit Blick auf die Bedeutung femininer Selbstwirksamkeit und Vergemeinschaftung für ländliche Zukünfte.

 

Jana Stadlbauer M. A. (Fürth)
Der akustische Alltag. Analytische Potenziale einer vernachlässigten Dimension

Klang, Geräusche und Musik begleiten Menschen in ihrem Alltag – bewusst und unbewusst. Das Akustische ist permanenter Begleiter, ob als belangloses Hintergrundrauschen, als alarmierendes Signal, als informierendes Kommunikationsmittel, als sinnliche Wahrnehmung und körperlich-emotionale Erfahrung. Vor dem Hintergrund des Eingebettet-Seins alltäglicher Handlungen in akustische Umwelten mutet die zögerliche Hinwendung der Empirischen Kulturwissenschaft zum Akustischen verwunderlich an. Zwar findet die Beschäftigung mit auditiven Kulturen jüngst Aufmerksamkeit unterschiedlicher Forschungsrichtungen wie den Sound (Culture) Studies, mehr als rare Tendenzen zum acoustic turn, sind aus der EKW aber nicht zu erkennen. So fehlt bislang ein subjekt- orientierter Zugang der Kulturwissenschaft zum Akustischen – dabei lohnt sich der epistemische Perspektiv- wechsel zu auditiven Akteur:innen, die ihre Alltage mithilfe und durch das Akustische gestalten.

Dies zeigt der Beitrag anhand meines Promotionsprojektes zur „Suche nach ‚Sound‘“ an der KU Eichstätt-Ingolstadt im Rahmen einer Ethnografie auditiver Kultur. Das Projekt fokussiert Formen der ‚bewussten‘ privaten Musikrezeption anhand der HiFi-Szene und ihrer Hörkultur.

So verdeutlicht der Beitrag, wie sich dezidiert unter der akustischen Perspektive und dem Zugriff des ‚Doing Sound‘ ein europäisch-ethnologisches Themenspektrum öffnet, das neue Erkenntnisse zu Tage fördert. Basierend auf den Feldforschungen (narrative Gespräche, gemeinsames Musikhören) stellt der Beitrag Elemente eines technisierten, medial überformten akustischen Alltags dar. Hör-Biografien geben Auskunft zu Lebenswelten, sozialen (Macht-)Strukturen und vielem mehr: Bedeutsam sind dabei materiell-technische Dingkulturen, die in Verbindung mit human und non- human- Beziehungen durch Mensch-Technik-Interaktionen stehen. Dass Geräte etwas ‚machen‘ und ‚fühlen‘ gehört beispielsweise zu den praktizierten Glaubensvorstellungen des Feldes. Ebenso treten affektiv-sinnliche Körperreaktionen (Bewegungen, „Gänsehaut“) in den Vordergrund, deren Analyse an die Anthropology of Senses anknüpft. Die Verortung der Körper, der Technik und Musikrezeption verhandeln die Akteur:innen mit akustisch-aufgeladenen Raum- und Zeitvorstellungen sowie persönlichen Sinnentwürfen. Spirituelles, Entschleunigung und Glückssuche zeigen sich, wenn die Hörenden zwischen technikeuphorisch und kulturpessimistisch, verdichtet unter dem Mantel des ‚Hobbies‘, ihre komplexen Alltage entwerfen.

 

Dr. Barbara Sieferle (Freiburg)
Alltag als reflexive Routine.
Erfahrungs- und Handlungsmuster im Leben nach der Haft [Der Teilbeitrag muss leider entfallen, 23.08.23]

Alltag, wie er in der Empirischen Kulturwissenschaft (oftmals unter Bezugnahme auf Alfred Schütz) konzipiert wird (vgl. Schütz/Luckmann 2003; Lipp 1993; Tschofen 2006), existiert für haftentlassene Menschen nicht. Für Men- schen, die aus dem Gefängnis entlassen werden, ist die Welt draußen keine selbstverständlich und fraglos gege- bene Welt, keine vertraut und unproblematisch wahrgenommene Wirklichkeit. Sie leben einen Alltag, der sich durch Erfahrungen und Handlungsmodi dauerhafter Verunsicherung, Unvorhersehbarkeit und Fragilität auszeichnet; bedingt durch Entfremdungserfahrungen gegenüber der Welt draußen aufgrund der Haft und gesellschaftliche Stigmatisierungsprozesse.

Aufbauend auf ethnographischer Forschung im Feld des Post-Gefängnis-Lebens gibt dieser Vortrag (1) einen dichten Einblick in die Veralltäglichung von Verunsicherung, Unvorhersehbarkeit und Fragilität. Darauf aufbauend stellt der Vortrag (2) theoretisch- konzeptionelle Überlegungen zu einem Verständnis von Alltag als reflexive Routine an:

Kulturwissenschaftliche Alltagskonzeptionen beschreiben Prozesse der Veralltäglichung (eher implizit denn explizit) als Habitualisierung (vgl. Bourdieu 1977), wenn sie Alltag als fraglos und selbstverständlich wahrge- nommene Welt konzipieren. Im Post-Gefängnis-Leben nimmt Veralltäglichung eine andere Form an: anstatt unbewusst gelebter und vorreflexiv angewandter Dispositionen, bilden hafterfahrene Menschen bewusst gelebte und reflexiv angewandte Erfahrungs- und Handlungsmuster aus: Verunsicherung, Unvorhersehbarkeit und Fragilität werden von hafterfahrenen Menschen täglich antizipiert; sie werden zu krisenhafter Alltagsnormalität – in Form von reflexiver Routine.

TU Dortmund

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

keuning haus

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
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