Sektion 3

Zeit nutzen

Inga Wilke M.  A. (Freiburg)

Muße als alternatives Zeitregime. Zur Inwertsetzung freier Zeit in Muße-Kursen

„Innehalten“ in der Meditation, „Auszeit“ im Kloster, „Entschleunigung“ beim Waldbaden: Gegenwärtige Achtsamkeits- und Entschleunigungskurse versprechen Zeit­erfahrungen abseits alltäglicher Routinen. Diesen setzen die Kurse alternative zeitliche Ordnungen entgegen: Muße soll durch die Inwertsetzung bedürfnisorientiert gestalteter Zeit, die Rhythmisierung und Ritualisierung sowie die Vermittlung zwischen selbst- und fremdbestimmter Zeit erlebbar werden. Muße als Kultur- und Selbsttechnik stellt dann ein Instrument der Selbstfürsorge gegen alltägliche Anforderungen dar, das Beschleunigung (Rosa 2005) eigenzeitliche Erfahrungen (Nowotny 1989) entgegensetzen will. Freie Zeit bedeutet laut dieser Konzeption eine Freiheit von Arbeit, Stress, Hektik und eine Freiheit zu Kontaktaufnahme mit sich selbst, Bedürfnisorientierung und Eigenzeit.

Zugleich stellen die Kurse Dienstleistungen dar, die freie Zeit kommerzialisieren und kommodifizieren. Sie verbinden die Ökonomisierung freier Zeit mit Resonanzpotenzialen (Rosa 2016) durch eigenzeitliche Erfahrungen. Anbietende werben mit dem Versprechen einer „Auszeit“; Teilnehmende erkaufen sich durch ihre Teilnahme zeitliche Freiräume und Eigenzeiten, die als Alltagsdesiderate imaginiert werden. Damit verbunden ist auch die Notwendigkeit einer moralischen Legitimierung, sich freie Zeit für sich selbst nehmen zu dürfen: Freie, selbstbestimmt verbrachte Zeit muss laut dieser Sichtweise Arbeitszeit und Freizeit abgerungen werden – ihr Wert bemisst sich maßgeblich anhand dieser Vergleichsskalen (Adam 1995).

Der Beitrag fragt, wie Anbietende und Teilnehmende das Verhältnis von Alltag und Nicht-Alltag, Selbst- und Fremdbestimmung, Ökonomisierung und Selbstfürsorge reflexiv und praktisch ausloten und wie die Akteur*innen dadurch die Kurse als zeitliche Enklaven (Soeffner 2014) konstituieren. Der Rückgriff auf Muße als alternatives Zeitregime verweist auf gegenwärtige Wahrnehmungen von und Debatten über Zeitverwendung, -mangel und -wohlstand.

Der Vortrag präsentiert zentrale Ergebnisse des im Abschluss befindlichen Promotions­projekts, das im Rahmen des Teilprojekts „Muße lernen? Freie Zeit, Kreativität und Entschleunigung im Kontext von Leistungssteigerung und Selbstoptimierung“ (Projektleitung: Prof. Dr. Markus Tauschek) des SFB 1015 „Muße“ an der Universität Freiburg bearbeitet wird. Die Analyse basiert auf der Ethnografie von acht Kursangeboten (2017– 2019) sowie narrativen Interviews mit Anbietenden und Teilnehmenden der Kurse.

 

Helen Franziska Veit MA (Tübingen)

Fail Faster. Performanzen des Scheiterns und die Idee der Vorläufigkeit

Wird Scheitern als Stigma, als „Tabu der Moderne“ (Sennett 1999) verhandelt, haftet es der/m Gescheiterten an, wird dauerhafte Zuschreibung, chronisch. Zahlreiche gegenwärtige Projekte, Ratgeberliteratur, Veranstaltungen, so auch sogenannte ­FuckUp Nights, die den empirischen Kern der hier zu Grunde liegenden Untersuchung ausmachen, schreiben sich eine andere Lesart auf die sichtbar wehenden Fahnen. Sie fordern explizit kulturellen Wandel, setzen sich für die öffentliche Sichtbarmachung, Entstigmatisierung und Rehabilitierung Gescheiterter ein und regen dadurch zur Arbeit an Gefühlen (Hochschild 2006, Gould 2009) an. Sie machen Angebote des Umdeutens und Aufbrechens jener Chronizität, vollziehen Praktiken hin zu einer transformierten und -enden Gefühlsnorm, in deren Rahmen Scheitern und Misserfolg als zum Teil (lebens-)notwendig, überwindbar und Lernprozess, damit als vor allem vorläufig, gerahmt und ‚performt‘ werden kann. Dieses Starkmachen der Vorläufigkeit ermöglicht Gescheiterten nicht im Rückblick zu verhaften, das Scheitern zum graduellen (John/Langhof 2014) zu machen, schafft aber zusätzliche Unsicherheiten (Beck 1986); Scheitern wird nicht einfach als Stufe zum Erfolg gerahmt, denn auch Erfolg wird hier konsequent zur Momentaufnahme und steht immer in Gefahr. Darauf folgt eine konsequente Hinwendung auf die Möglichkeiten der Zukunft, auf das Potential, das erkannt, benannt, öffentlich exponiert und authentisch ‚performt‘ werden muss. Es speist sich unter anderem aus der Kompetenz, im Sinne der geforderten Gefühlsnorm mit Scheitern (und Erfolg) umgehen zu können. Scheitern darf nicht (langfristig) erschüttern. „Fail faster“ ist Zeitregime, ökonomisches Prinzip und letztlich emotionale Praxis, die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem und moralische Fragen des „richtigen“ Umgangs mit Scheitern verhandelt.

Der Vortrag fasst Ergebnisse der sich (aktuell) in der Schreibphase befindenden Dissertation zusammen, die auf ethnographischer Beforschung gegenwärtiger Umgangsweisen mit Erfahrungen des Scheiterns im Format der (Unterhaltungs-) Veranstaltung, die seit einigen Jahren weltweit veranstaltet werden und hier u. a. in teilnehmender Beobachtung und durch Interviews im deutschsprachigen Raum gewonnen wurden, basiert. Es werden Einblicke in das empirische Material gegeben, das unter besonderer Berücksichtigung der Kategorie „Zeit“ ausgewählt wird.

 

Dr. Sibylle Künzler (Basel /CH)

Die akademische Viertelstunde oder 30 Minuten Gruppenarbeit sollten reichen. Temporalitäten und Rhythmisierungen des kulturwissenschaft­lichen Lehrens und Lernens

Es eröffnet sich eine neue Perspektive auf die empirische Kulturwissenschaft, wenn sie von der Lehre und dem Lernen her reflektiert wird. Während in Flurgesprächen in den Instituten die Lehre sehr oft thematisiert wird, so wurde der eigene Lehrbetrieb bisher kaum mit einem kulturwissenschaftlich-selbstreflexiven Anspruch erforscht. In den vergangenen Jahren ist allerdings das Interesse für hochschuldidaktische Fragen in der empirischen Kulturwissenschaft gestiegen – unter anderem ausgelöst durch die Hochschulreform, welche Lehrzertifikate für Doktorierende und Postdoktorierende einfordert, aber auch aufgrund veränderter gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und digitalen Begebenheiten. Es beginnt eine Suche nach neuen wissenschaftlichen Arbeitstechniken, Fertigkeiten und Kompetenzen, die in die Ausbildung integriert werden könnten beziehungsweise sollten. Die Coronakrise setzte ihrerseits nochmals viele didaktische Diskussionen in Gang. „Zeit“ ist eine für das Lehren und Lernen besonders zentrale Dimension: In der Lehrplanung fürs kommende Semester müssen Zeitslots verteilt werden und es gilt die eigene Lehrveranstaltung zu rhythmisieren. Präsentationen werden im letzten Moment vorbereitet und für ausführliche Gruppendiskussionen fehlt oft die Zeit. Bei Zoom-Seminaren wird oft die Pause vergessen und überzogen. Das Studieren mit ETCS-Punkten hat dazu geführt, das Semester und das gesamte Studium dichter zu organisieren und schneller abzuschliessen. Umgekehrt ist der Prozess des Entfaltens von eigenständigen kulturwissenschaftlichen Überlegungen niemals gänzlich abgeschlossen: Kulturwissenschaft zu lernen bedeutet lebenslanges Lernen. Das können jene Wissenschaftler*innen, welche im Fach ihren Beruf gefunden haben, bestätigen. Für Dozierende, die schon lange an den Universitäten tätig sind, verändert sich auch ihr eigener Unterrichtsstil: So wird etwa die Liste der Lernziele für ein Seminar von einem Semester zum nächsten kürzer. Etablierte Dozentinnen und Dozenten halten längere Monologe oder schaffen es umgekehrt mit der Zeit immer besser, Gruppenarbeiten so zu gestalten, dass die Studierenden länger sprechen können. Auffallend ist, dass die straffe Strukturierung des Lehrplans, der Seminarzeiten und des student life cycle immer weniger Leerzeiten lässt, die jedoch für das Lernen eine besondere Wichtigkeit haben, weil dann Inhalte im Modus des „it’s doing it“ (Lucie Tuma, Jens Badura: https://www.researchcatalogue.net/profile/show-exposition?exposition=51120) weiterverarbeitet werden.

Im Referat werden die kulturwissenschaftliche Lehre und Lernen anhand von Beobachtungen und Quellenmaterial der eigenen Lehre reflektiert. Zudem werden informelle Gespräche, anonymisierte Mails mit Studierenden und archivierte Unterlagen zu Lehrveranstaltungen genutzt. Vier Aspekte werden vertieft: 1.) Hierarchische Anordnungen: Zeitliche Strukturierungen des Lehres und Lernens geht mit hierarchischen Anordnungen einher. Ein antiautoritärer Führungsspiel der Lehrperson hat etwa zur Folge, dass mehr Zeit für kollaborative Prozesse eingeplant wird. Das wirkt sich auf das raumzeitliche (vgl. Henri Lefebvre: Spacetime) Setting aus: Gruppen­arbeitstische anstatt Bankreihen. 2.) Unterschiedliche Modalitäten und Digitalisierung: Zweitens haben verschiedene Lehrsettings und die dabei verwendeten Medien und Techniken unterschiedliche Zeitlichkeiten. Gestalterisch-spielerische Übungen brauchen beispielsweise eine aufwändigere Vorbereitungszeit, in der Durchführung geraten die Studierenden in einen zeitlichen Flow und die Seminarsitzung verfliegt im Nu. Textdiskussionen und Schreibaufgaben brauchen hingegen Zeit und fühlen sich bei der Durchführung auch lang an. Besonders soll hier auch auf digitale Lehre mit ihren spezifischen Temporalitäten eingegangen werden. 3.) Aktive Gestaltung der Lehr-Lern-Settings: „Zeit“ ist ein didaktisches Arbeitsinstrument, mit dem das Lehren und Lernen dynamisch gestaltet werden kann. Die „free time“ (vgl. das Zitat von Ingold) ermöglicht es den Studierenden beispielsweise im Sinne eines lerntheoretischen, subjektiven Turns, Inhalte mit ihren eigene Erfahrungen und Interessen zu verknüpfen und autonome Überlegungen über einen längeren Prozess hinweg entfalten zu können. 4.) Lebenslanges Lehren und Lernen: Mit der zeitlichen, endlichen Dimension des Lebens – welche die Frage nach dem Warum des Lernens immer tangiert – verändert sich auch der Blick für die in der Lehre verhandelten Inhalte und die Aufgaben der Kulturwissenschaft. Umgekehrt beeinflusst die eigene Biographie die Lehrtätigkeit und wiederholte Lehrangebote verändern sich über die Zeit. Es wäre spannend die Lehre nicht nur in Bezug auf ihr aktuelles Geschehen in einzelnen Veranstaltungen, sondern auch an einzelnen Instituten über ihre zeitliche Entwicklung hinweg zu erforschen.

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