Transformationen | Umbrüche | Krisen
Dr. Katharina Schuchardt (Dresden)
Zeithorizonte der (Un)gewissheit. Von temporalen Grenzen in der deutsch-polnischen Lausitz
Der Strukturwandel ist beständiger Teil des öffentlichen Diskurses in der Lausitz. Gegenwärtig rückt vor allem das Ende des Braunkohleabbaus in Deutschland (2038) die Region wieder in den Fokus. Der polnische Teil steht mit dem Tagebau Turów im Dreiländereck vor den gleichen Herausforderungen, da dieser spätestens 2044 eingestellt wird. Auf beiden Seiten werden das Für und Wider der Förderung verhandelt, die Zukunftsperspektiven und Fortschrittseuphorien von Gemeinden, der Kampf gegen Umweltverschmutzung auf der einen und Arbeitsplätze, soziale Bindungen und Kollektivvorstellungen als Kohleregion auf der anderen Seite.
Trotz einer unterschiedlich ökonomisch-politischen Entwicklung in beiden Ländern nach 1989/90 ist die deutsch-polnische Lausitz durch ähnliche Strukturmerkmale geprägt: ihre Lage im peripheren, ländlichen Raum, die wirtschaftliche Bedeutung einer Schwerindustrie für die ansonsten strukturschwache Region sowie die durch den Tagebau verursachten Umweltschäden. Mit dem drohenden Ende der Förderung jedoch rückt aufgrund verschiedener Bewältigungsstrategien innerhalb der anstehenden Transformation eine mögliche Lausitz zweier Geschwindigkeiten in den Fokus, so meine These.
Der zeitliche Horizont der Energiewende wird in beiden Ländern jeweils unterschiedlich artikuliert und verhandelt. Während Akteure im deutschen Teil der Lausitz versuchen, alternative Strategien zu entwickeln und den Transformationsprozess – zusätzlich gestützt durch staatliche Fördergelder – ideell zu begleiten, wurden in der polnischen Lausitz bisher keine finanziellen Förderungen zugesagt sowie kaum alternativ Entwürfe der Region von lokalen Akteur:innen entworfen. Einer vermeintlich zukunftsorientierten Perspektive steht dem Festhalten an der historischen Bedeutung einer Kohleregion entgegen. Zeit wird zu einem Versprechen in beide Richtungen und zu einem Faktor zwischen Hoffnung, Perspektiven, Angst und Unsicherheit. Ich möchte demnach eine vergleichende Perspektive eröffnen und auf die unterschiedliche Artikulation von Temporalität in der Grenzregion eingehen. Der Vortrag diskutiert, wie Zeit jeweils verhandelt wird, welche (zeitlichen) Perspektiven für die Region entworfen werden und ob durch den unterschiedlichen Umgang mit Temporalität nicht neue Grenzen in einer Grenzregion entstehen.
Prof. Dr. Sadhana Naithani (Neu Dehli /IND)
Narratives of Time. The Last farmer of Reinhausen, The Ex-Soldier at 92, The Makers and Keepers of a Forest Theatre, and The Woman Who Made A Commune
Culture is visible only in the present, but its credibility depends on the length of time it has existed for. The temporality of culture exists on a tension line between stasis and change. Culture appears static in its present moment and the change is invisible, like a flower blooming or wilting. The process of the blooming or wilting of the flower can be seen through the timelapse photography, but the process of culture would escape technological capture. Culture, as an opposite of nature, is constructed by humans and the transformative impact of their acts crystallises only over a period of time. Narrative reflection on the past lets the temporality of culture be articulated. Narratives connect the past with the present and the future of culture, and the static moment of the present starts to move backwards and forwards through narration and narrative. In this paper I focus on four deeply personal and (referentially) social narratives marking the flow of time since 1945 and making the temporality of culture visible. These narratives were recorded by me in three villages in Niedersachsen, Germany in the period 2013 –2017. Three out of the four narrators belong to the generation that went silent after the WWII, and this is the first time that they narrate their lives to a foreigner for an academic research.
I reorient Walter Benjamin’s idea of “the (oral) storyteller” to apply it to narration of personal life. Benjamin’s idea of the oral storyteller revolves around three main concepts: communication of experience (Erfahrung, as different from Erlebnis), sharing of experience (Mitteilbarkeit as different from giving the chronology of events) and generation of wisdom (as different from production and consumption of stories). Some of my narrators remember the world since 1940. I elaborate Benjamin’s method with reference to the contemporary theories of memory whereby the rootedness of memory in cultural and narrative conventions has been emphasized. I have titled the four personal narratives that I discuss in this paper as: The Last Farmer of Reinhausen; The Ex-Soldier at 92; The Makers and Keepers of a Forest Theatre, and The Woman Who Made a Commune. This paper engages with the temporality of culture in contemporary German villages.
The proposed paper for presentation at the dgv-Kongress 2021 is part of my larger research project titled “Narratives of Time and Space”. This ongoing research started in 2013 in the village Reinhausen, near Göttingen and expanded to five other villages in the same municipality of Gleichen.
I gathered oral narratives of residents of villages through conversations. I was seeking to understand how contemporary Germans conceptualise the space called village in past and present and what are the temporal markers in the living memory. In other words, I was exploring the triangle of individual experience, community life and memory through memory-based narratives.
My search for the meaning of ‘village’ and ‘village life’ in contemporary Germany brought me in communication with over a hundred individuals.
Dr. Nina Gorgus (Frankfurt /M.), Brigitte Heck M. A. (Karlsruhe)
Time Out! Im Corona-Stillstand Erinnerung für die Zukunft generieren
Auch wenn in der westlich geprägten Tradition das Museum zumeist noch als Ort für eine vermeintliche wissenschaftliche Objektivität und Neutralität gilt, brechen doch seit einiger Zeit verstärkt dessen Strukturen auf und relativiert sich diese distanzierte Position. Als im März 2020 die Corona-Pandemie auch Deutschland erreichte und sich im Lockdown eine völlig neue und beunruhigende Alltagspraxis etablierte, schuf dies für die Museumsarbeit Tatsachen und zwang zur Neugestaltung und -bewertung routinierter Abläufe und Strategien, während die gesamtgesellschaftliche Dimension der Corona-Pandemie noch nicht abzusehen war.
Kulturgeschichtlichen Museumssammlungen als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse bot sich damit eine besondere Herausforderung und Chance und sie reagierten diversifiziert darauf. Zwei Beispiele aus stadt- und landeshistorischen Einrichtungen stehen dafür und bieten Anlass zur Diskussion. Beide Museen – das Badische Landesmuseum in Karlsruhe und das Historische Museum in Frankfurt – griffen dabei auf Techniken und Methoden der Gegenwartssammlung und des partizipativen Sammelns zurück und verstanden ihre Arbeit im Sinne einer „shared responsibility“ (Griesser-Stermscheg / Sternfeld) als offene Gedächtnisleistung/arbeit und Teilhabe im gesellschaftlichen Diskurs.
Mit vielen Beispielen illustriert, diskutieren die beiden Kuratorinnen in einem offenen, interaktiven Gesprächsformat den individuellen wie institutionellen Umgang mit den angebotenen Objekten und das „making of Kulturerbe“ als Generieren von Erinnerungskultur. Welche Rolle spielte die Zeit in diesem Musealisierungsprozess? Hat das Sammeln ohne kuratorische Distanz eine größere Tragweite? Spiegelt sich der Zeitfaktor auch in den angebotenen Objekten? Welche Objekte wurden wann und in welcher Form angeboten? Konnte die Krise gesammelt werden?
Martina Griesser-Stermscheg, Nora Sternfeld und Luisa Ziaja (Hg.), Sich mit Sammlungen anlegen. Gemeinsame Dinge und alternative Archive, edition angewandte, curating. Ausstellungstheorie und -praxis Bd. 5. Berlin 2020.
Susanne Gesser, Nina Gorgus, Angela Jannelli (Hg.), Das subjektive Museum. Partizipative Museumsarbeit zwischen Selbstvergewisserung und gesellschaftspolitischem Engagement. Bielefeld 2020.