Zukunft imaginieren
Sina Wohlgemuth M. A. (Bonn)
Zukunftsorientierungen. Zur Aushandlung der Zukunftsgestaltung in ländlichen Regionen
Der demographische Wandel – dargestellt als eine in der Zukunft liegende Bedrohung – materialisiert sich in Form von prospektiven Statistiken zur Bevölkerungszusammensetzung. Regionalentwicklungsprogramme, Projektanträge aber auch Fachvorträge auf der Grünen Woche oder Informationsveranstaltungen in Dorfkneipen – sie alle stellen Arenen dar, in denen die Zukunft mit Hilfe von Statistiken zum demographischen Wandel als antizipier- und gestaltbar repräsentiert wird. Bewerber*innen um Fördermittel zur Regionalentwicklung oder Koordinator*innen von Entwicklungsprojekten nutzen den demographischen Wandel, um eine Dringlichkeit in der Gegenwart zu evozieren, die Bewohner*innen zu zukunftsgerichteten Praktiken aktivieren sollen.
Aufbauend auf der Anthropology of the Future versteht der Beitrag diese Policy-induzierten Repräsentationen der Zukunft als Zukunftsobjekte (Esguerra 2019). Die Frage lautet, wie die Zukunftsobjekte die „temporal agency“ (Moroşanu/Ringel 2016) der lokalen Akteur*innen beeinflussen und welche Auswirkungen dies auf ihre gegenwärtigen Praktiken zur Bearbeitung der Zukunft haben. Das empirische Material basiert auf einer dreijährigen Feldforschung für mein Dissertationsprojekt im Rahmen des DFG-Projekts „Partizipative Entwicklung ländlicher Regionen“. Der empirische Fokus für den Beitrag liegt auf qualitativen Interviews und teilnehmender Beobachtung zur Umsetzung des LEADER-Projekts „Hilfenetzwerk“, dessen Ziel es ist, vor dem Hintergrund sich verändernder Bevölkerungszusammensetzungen neue Gemeinschaftsformen zu etablieren.
Der Beitrag zeigt einen Clash zwischen den verschiedenen zeitlichen Systemen der strategischen, der Policylogik folgenden Zukunftshorizonte und den alltäglichen, an den Lebensumständen der Bewohner*innen ländlicher Regionen orientierten Zeithorizonten. Mit dem Blick auf die Zukunftsobjekte der Regionalentwicklungsprogramme untersucht der Beitrag den Einfluss der Policy auf die Zukunftsgestaltung der Bewohner*innen ländlicher Regionen. Auf Ebene der Bewohner*innen entstehen neue epistemische Sozialitäten, in denen sich alternative Arrangements von Akteur*innen und Praktiken für die Zukunftsgestaltung in ländlichen Regionen formieren.
Lukas Rödder MA, Dominik Speidel BA (München)
Wie man das „gute Leben“ absichert. Über Zukunftsszenarien im Versicherungskontext
Ein wesentlicher Kern des Versicherungsgeschäft bildet die Antizipation der Zukunft. Greifbar wird dies vor allem bei Produkten der Altersvorsorge. Den Menschen ist es nicht möglich, das, was auf sie zukommt, vorauszusehen. Doch Leben bedarf Planung – deshalb gilt es sich gegen lauernde Gefahren und kommendes Unheil abzusichern. Als eine Institution des „Kontingenzmanagement[s]“ (Michael Makropoulos) ist es eine der zentralen Charakteristika von Versicherungen, dass sie Zukünftiges in das Blickfeld ihrer Kund*innen ziehen. Sie vergegenwärtigen mögliche Zukünfte, betonen damit verbundene Risiken und vermitteln eine dagegen gerichtete Absicherungsleistung gegen Gebühr.
Der Fokus dieser Zukunftsantizipation agiert dabei stets in einem Modus der „gegenwärtigen Zukunft“ (Niklas Luhmann). Im Unterschied zu der „zukünftigen Gegenwart“, dem Zustand der Welt, der sich letztendlich einstellen wird – ist die ‚gegenwärtige Zukunft‘ eine Projektion: Es ist die Art und Weise wie Menschen die Zukunft aus dem Hier und Jetzt betrachten. Zur werbewirksamen Konstruktion von solchen Zukunftsvorstellungen kommen im Kontext der Versicherungsvermittlung nun diverse Inszenierungsstrategien zur Geltung. Textbausteine, Bilder, Statistiken und Infografiken werden herangezogen, um der potenziellen Zukunft eine imaginative Gestalt zu verleihen. Die hier zum Vorschein kommenden Vorgänge des Risikobewusstsein-Schaffens (Verunsicherung) und der Vertrauensgenerierung (Versicherung) gehen dabei Hand in Hand.
Für den Vortrag planen wir, nach einer Auseinandersetzung mit Konzepten zur „Imaginierten Zukunft“ (Jens Beckert u. a.), eine ethnographische Analyse dieser beiden Vorgänge. Das analysierte Material besteht dabei hauptsächlich aus dem Werbematerial der Versicherungen, sowie Experteninterviews. Unser geplanter Vortrag zielt zum einen darauf ab, die vielfältigen „Instrumente der Imagination“ (Jens Beckert) aufzuzeigen, mit deren Hilfe Zukünftiges im Versicherungskontext vermittelt wird. Darüber hinaus gilt es der Frage nachzugehen, welche Idealvorstellungen von Sicherheit und dem „guten Leben“ im Alter wie dargestellt und imaginiert werden.
Die in unserem Vortrag vorgestellten Forschungen entstehen im Rahmen des DFG-Projekts „Vertrauensarbeit in der Finanzökonomie“ unter der Leitung von Prof. Dr. Irene Götz am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.