Sektion 8

Narrativität und Zeitlichkeit

PD Dr. Jens Wietschorke (Wien /AUT)

Tiefengeschichten der gesellschaftlichen Spaltung? Soziale Zeit und sozialer Raum in der neueren Autosoziobiografik

Seit einigen Jahren ist ein neues Erfolgsgenre auf dem Buchmarkt präsent: das Genre der „Autosoziobiographie“. Dabei handelt es sich um Texte von Bildungsaufsteiger*innen, die ihren Weg aus der Arbeiterklasse ins akademische Milieu nachzeichnen. Die Reihe der Beispiele mit Bestsellerstatus reicht von Annie Ernaux, Didier Eribon und Èdouard Louis in Frankreich, Sarah Smarsh, Tara Westover und J. D. Vance in den USA bis hin zu Daniela Dröscher oder Christian Baron in Deutschland. Ein Grund für diese Konjunktur liegt zweifelsohne im öffentlichen Diskurs über eine angebliche kulturelle Spaltung der Gesellschaft in „Anywheres“ und „Somewheres“, „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“. Die Lebensberichte von Aufsteiger*innen scheinen besonders gut erklären zu können, wie es zu dieser Spaltung gekommen ist, weil ihre Erzählung beide soziokulturellen Pole miteinander verbindet; im Kontext aktueller Debatten um rechtspopulistische Wahlerfolge geht von ihnen das Versprechen aus, die drohende politische Dissoziation der Gesellschaft im Medium der Aufsteiger*innenerzählung durchleuchten zu können.

Zur Frage nach der Temporalität von Kultur kann der Blick auf die genannten Autosoziobiographien und die sie begleitenden Debatten insofern beitragen, als diese Texte sozusagen Tiefengeschichten der kulturellen Spaltung anbieten. Nicht ohne Grund ist die Sozialtheorie Pierre Bourdieus, die in sich historisch-genetisch angelegt ist und eine ausgeprägte Perspektive auf den zeitlichen Verlauf von Sozialisationsprozessen entwickelt, für viele Autor*innen ein zentraler Referenzpunkt. Die Bücher von Eribon, Louis oder Baron werden denn auch öffentlich als „Kollektivbiographien“ diskutiert; damit werden in der temporalen Struktur der auf das Heute verweisenden autobiographischen Erinnerung Genealogien der Gegenwart identifiziert. Die Narrative reichen – siehe das Beispiel Didier Eribons – bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück und sollen den Schwenk von Teilen einer vormals links wählenden Arbeiter*innenklasse nach rechts erklären.

Der in der Diskurs- und Erzählforschung verortete Beitrag steht im Kontext einer größeren, durch die DFG mittels eines Heisenberg-Stipendium geförderten Forschung zur Diskursgeschichte der „Unterschicht“ bzw. der „einfachen Leute“. Durch die Fokussierung auf Verschränkungen von sozialer Zeit und sozialem Raum kann darüber hinausgehend auch das theoretische Potenzial temporaler Kategorien in der reflexiven sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung thematisiert werden.

 

Prof. Dr. Andreas Hartmann (Münster)

Erinnerungen an die Zukunft. Zur Gegenwart des mythischen Denkens

Der Vortragstitel enthält zwei Thesen, die ich aus kulturvergleichender Perspektive erörtern möchte. 1. Erinnerungen, verstanden als Repräsentationen von Vergangenheit, stehen in einem elementaren Zukunftsbezug. 2. In diesem Kontext hat das mythische Denken eine Schlüsselstellung inne. Der Begriff des mythischen Denkens bezeichnet einen kognitiven Modus Operandi, der Zeitbewusstsein mit einem fundamentalen Permanenzwert ausstattet. Hierdurch macht er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft füreinander durchlässig und löst deren Gegensätze auf. In den Blick nehmen werde ich dem kulturellen Gedächtnis verpflichtete Erzählungen, Rituale und Artefakte, die soziale Wert- und Ordnungsvorstellungen verhandeln, entzeitlichen und auf Dauer stellen. Damit erlangen sie eine Qualität der Unanfechtbarkeit und dienen der Stabilisierung von Weltbildern. Sie aktualisieren und verlebendigen Wissensbestände und Orientierungsnormen, welche die Vergangenheit und die Zukunft gleichermaßen betreffen. Nicht zuletzt dank seiner A-Temporalität regeneriert das mythische Denken die kosmologischen Grundlagen der Gesellschaft. Es bringt Herkunft und Zukunft, Ist-Zustand und Soll-Zustand in eine gemeinsame Perspektive. Eingebunden ist meine Fragestellung in ein um das Feld der Präkognition erweitertes Gedächtnis- und Zeitbewusstseinsmodell, für das ich den Begriff „Erdächtnis“ vorgeschlagen und das ich gemeinsam mit Oliwia Murawska umrissen habe. Mein Vortrag wird diesen Gedankenanstoß fortschreiben.

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