Sektion 8

Sektion 8 | Transformationserfahrungen

Dr. Jochen Ramming (Würzburg)
Im Schatten der Mauer – Erzählkonstrukte zum Alltag an der innerdeutschen Grenze

Mödlareuth auf der bayerisch-thüringischen Grenze erlangte im Kalten Krieg Berühmtheit als geteiltes Dorf. Eine 700 m lange Betonmauer riegelte den Ortsteil in der DDR von der Dorfhälfte in der Bundesrepublik ab. 33 Jahre lang lebten die knapp 80 Einwohner*innen mit diesem Bauwerk. Einem ersten Durchbruch am 11. Dezember 1989 folgte am 17. Juni des Folgejahres der Abriss. Dabei einigten sich die beiden Bürgermeister darauf, rund 100 m der Mauer zu erhalten und ein Museum zu gründen.

Aktuell wird das Deutsch-Deutsche Museum als Teil des Gedenkstättenkonzepts des Bundes und des Freistaats Bayern neu aufgestellt. Das Freigelände wird inhaltlich und gestalterisch überplant. Zudem entsteht ein Museums- neubau, in dem die Entwicklung des DDR-Grenzregimes und die Verhältnisse am „Zonenrand“ dargestellt werden sollen. Materielle Zeugnisse dazu sind im Übermaß vorhanden. In Mödlareuth können weltpolitische Vorgänge in lokalen Ereignissen gespiegelt werden.

Doch die Vorstellungen der Politik, der politischen Bildungseinrichtungen und der beteiligten Gedenk- und Erinnerungsstätten gehen noch weiter, fordern sie doch auch die Darstellung des „Alltags“ an der Grenzmauer. Kaum ein Pressebericht zu den Museumsplänen, der nicht diesen „beschwerlichen Alltag“ in Ost und West vor dem Hintergrund der Mödlareuther Mauer beschwört. Der Alltag im Grenzgebiet wird mit besonderer Bedeutung aufgeladen; er steht für das Leben der Menschen unter den Repressalien eines Unrechtsstaates. Dieses Alltagsverständnis ist unverkennbar politisch.

Mit Inhalt gefüllt wird der behauptete Grenzalltag durch autobiografische Erzählungen von Zeitzeug*innen. Dem Museum stehen ein zwischen 1952 und 1975 geführtes Tagebuch, einige Ton-Dokumente und Erfahrungsberichte, sowie 16 für die künftige Ausstellung produzierte Filminterviews zur Verfügung. Letztere entstammen dem Über- gangsbereich zwischen alltagsnahem kommunikativem und alltagfernem kulturellem Gedächtnis (J. Assmann). Die Interviewten beziehen neben eigenen Erinnerungen und individuellen Agenden auch, erinnerungspolitische Diskurse, die lokale Museumsarbeit und popkulturelle Überformungen (Mödlareuth inspirierte die TV-Serie Tannbach und war Drehort des Spielfilms Ballon) mit ein.

Der Kongressbeitrag will die gegenwärtigen Projektionen auf einen „Alltag im Schatten der Mauer“ analysieren und dabei die Motivationen und Strategien der Zeitzeug*innen aber auch der Protagonist*innen in erinnerungs- politischen Kontexten herausarbeiten.

 

Florian Grundmüller M. A. (Berlin)
Postkarten-Alltag: Über An- und Abwesenheit der deutschen Wiedervereinigung in Postkartenkorrespondenzen

Post- und Ansichtskarten erscheinen als banale Objekte touristischer Praktiken, die in ihren Kurznachrichten das Wetter, das Essen, eine allgemeine Stimmung beschreiben. Sie sind jedoch als Objekte selbst eingebettet in eine Alltagskultur, bedienen (fotografische) Trends und berichten von Reisegewohnheiten, Schreib- und Kommuni- kationspraktiken in ihrer jeweiligen Zeit (Rogan 2005). In gesellschaftlichen Umbruchszeiten können Postkarten einen Alltag erzählen, der vermeintlich abseits politischer und sozialer Ereignisse liegt und damit eine Momentaufnahme konkreter Lebenswelten ist.

Anhand von empirischem Material und Postkarten aus der Zeit der deutschen Wiedervereinigung, die einen historischen Einschnitt markiert, zeigt der Beitrag, wie das Medium selbst eine persönliche Alltagswahrnehmung erzählt.

Briefkorrespondenzen aus der deutschen Wendezeit begleiteten die sich andauernd verändernden politischen Verhältnisse in der DDR und BRD, wie die kürzlich von Ingrun Spazier (2022) herausgegebene Briefsammlung „Briefe aus der DDR 1989–1990“ veranschaulicht. Während hier die Schreibenden wegen der postalischen Latenz nur schwer Schritt halten konnten mit dem Takt sozialer Umbrüche, scheinen Postkarten hingegen einen anderen Alltag zu erzählen: Auf visueller Ebene verändern sich die Motive und Darstellungen nicht, auf textueller Ebene hingegen werden neue Reiseziele und Möglichkeiten erschlossen. Ausgehend von einer multimodalen, multi- temporalen und intertextuellen Lesart von Post- und Ansichtskarten aus der deutschen Wendezeit nähert sich der Beitrag Alltäglichkeiten an, die auf den ersten Blick abseits staatlicher Veränderungen liegen. Mit Blick auf die sich überschlagenden Ereignisse der Wendezeit in Deutschland sind Postkarten sprechende Zeitzeuginnen einer alltäglichen Gleichzeitigkeit, die den Umbruch „aus der Ferne“ beobachten und beschreiben.

Zudem will der Beitrag einen Impuls setzen, Postkarten in der historisch-archivalischen Forschung auch als Objekte zu stärken. Während sich die Postkarte in den empirischen Kulturwissenschaften vom „allgegenwärtigen Alltagsobjekt zu einer obskuren, gelegentlichen wissenschaftlichen Fußnote“ (Ferguson 2005:167) entwickelte, erscheint sie erst kürzlich wieder als zentrale Akteurin in der historisch-ethnografischen Forschung (vgl. Almasy, Pfandl & Tropper 2020; Fritzer et al. 2022; sowie das Forschungsprojekt „Postcarding Cultures in Times of Upheavals“ der Universität Göttingen).

 

Dr. Theresa Jacobs, Dr. Ines Keller (Bautzen/Budyšin)
Alltag und kulturelle Sicherheit: Transformationserfahrungen aus minderheitenspezifischer Perspektive. Zwei sorbische Fallbeispiele

Die politische Wende 1989/90 hat als Transformationserfahrung im Alltag vieler Menschen Spuren auch in der zweisprachigen Lausitz hinterlassen. Für die Analyse dieser Prozesse hat sich das Konzept „kultureller Sicherheit“ (Carbonneau et al. 2017, 2021), das am Beispiel ethnischer und sprachlicher Minderheiten entwickelt wurde, bewährt. Unter „kultureller Sicherheit“ werden „gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen (verstanden), die derart gestaltet sein müssen, dass sie Minderheiten überpolitische Teilhabe und kulturelles Anderssein ermöglichen, zugleich Teil und Gegenteil der Gesellschaft sein zu können“ (ebd. Einführung 2017:8). Neben staatlicher, institutioneller und territorialer Dimension sind auch kollektive Identitätsangebote und partizipative Elemente maßgeblich für die Gewährleistung kultureller Sicherheit, die in der Regel mit einer stärkeren Resilienzfähigkeit einhergeht. Dimensionen kultureller Sicherheit fokussieren in der Regel auf kollektive Prozesse.

Im Beitrag werden kollektive um individuelle Dimensionen ergänzt. Zwei empirische Fallbeispiele aus dem Kultur- und Kreativsektor bei den Sorben werden exemplarisch herangezogen, die auf aktuellen Forschungsprojekten basieren. Im ersten Beispiel werden Brüche, Kontinuitäten und Neuentwürfe sorbischer/wendischer KünstlerInnen im Umgang mit s. g. kulturellen Erbe zwischen ökonomischer Inwertsetzung und ethnischer Selbstvergewisserung betrachtet, was am Beispiel des selbstständigen Fotografen Jürgen Matschie veranschaulicht werden soll. Im zweiten Fall steht ebenfalls der Umgang mit s. g. kulturellem Erbe im Fokus, hier jedoch aus Sicht sorbischer/wendischer Vereine im ländlichen Raum. Auch hier werden alltagskulturelle Auswirkungen aktueller Transformationsprozesse, wie der des anstehenden Strukturwandels in der Lausitz, untersucht. die in Bezug auf den. Als empirische Basis dienen jeweils vor allem qualitative Interviews.

Eine grundlegende Aufrechterhaltung „kultureller Sicherheit“ spielt also vor allem in Transformationsprozessen für die Gestaltung des sich wandelnden Alltags von Menschen in Minderheitenkontexten eine entscheidende Rolle und stellt seine AkteurInnen daher auch vor spezifische Herausforderungen, die sich einerseits als minderheiten- spezifisch und andererseits als beispielhaft für die Entwicklung resilienter Strategien ausweisen lassen.

TU Dortmund

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

keuning haus

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
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