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Collateral Publics. Emergenz und Implikationen unvorhergesehener Öffentlichkeiten
Workshopleitung: Ass.-Prof. PD Dr. Marion Näser-Lather (Innsbruck/AUT)

Wie Didier Fassin (2017) feststellt, bleibt die Mehrheit derjenigen, die von einem anthropologischen Forschungsprojekt Kenntnis nehmen, dem Anthropologen, der es durchführt, in der Regel unbekannt, sodass er mit überraschenden Reaktionen konfrontiert werden kann, die möglicherweise nur eine sehr entfernte Beziehung zum (Forschungs-)Inhalt haben. Dies ist unter anderem der Tatsache geschuldet, dass die Konturen ethnografischer Felder nicht festgelegt sind, sondern sich im Forschungsprozess herausbilden (Amit 2002; Gupta und Ferguson 1997), aber auch der spezifischen, Offenheit und Kontingenz nicht nur zulassenden, sondern zum Teil aktiv suchenden ethnographischen Methodik, in der beispielsweise Schneeballverfahren für die Auswahl von Interviewpartner*innen ursprünglich nicht adressierte Akteur*innen auf die Forschung aufmerksam machen (siehe z. B. Noy 2008).

Im Workshop möchte ich ein Konzept von Thomas G. Kirsch und mir zur Diskussion stellen, das versucht, die daraus resultierenden Implikationen für die Forschung zu reflektieren: collateral publics. Dabei handelt es sich um Öffentlichkeiten, derer sich Forschende zunächst nicht bewusst sind, die jedoch an ihrer Arbeit interessiert sind und diese beeinflussen. Kollaterale Öffentlichkeiten existieren teils bereits vor der Forschung, teils konstituieren sie sich erst durch diese auf unvorhergesehene und überraschende Weise. Akteur*innen, die solche Öffentlichkeiten bilden, können als zufällig Anwesende Interaktionen von Ethnograph*innen mit dem Feld beobachten (vgl. Goffman 1981) oder über Medien Kenntnis von deren Forschung erlangen und auf sie reagieren. Kollaterale Öffentlichkeiten entfalten Deutungsmacht und üben Agency aus, indem ihre Existenz den Forschungsprozess beeinflusst oder sie ihn kommentieren beziehungsweise in ihn eingreifen. Dies kann zu unerwarteten Perspektiven, Gelegenheiten und Kooperationen führen; collateral publics können jedoch auch versuchen, Forschungen zu verhindern oder deren Ergebnisse für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

Zwei Faktoren haben jüngst den Einfluss solcher Öffentlichkeiten verstärkt: erstens, die Digitalisierung, die

das vermehrte Auftreten von collateral publics in digitalen Umgebungen und von beschleunigter, entgrenzter und teils verzerrter Verbreitung von Forschungsergebnissen zur Folge hat (vgl. Bangstad et al 2017); zweitens, neoliberale Politiken, die Wissenschaftler*innen dazu drängen, ihre Forschungen aktiv in der Öffentlichkeit zu bewerben, häufig bereits vor Projektbeginn. Kollaterale Öffentlichkeiten können einen tiefgreifenden Einfluss darauf haben, wie anthropologische Forschungsprojekte konzipiert, durchgeführt und dargestellt werden. Unter anderem kann die Antizipation oder Erfahrung von Eingriffen durch Kollaterale Öffentlichkeiten empirische Kulturwissenschaftler*innen dazu veranlassen, ihre eigene Positionalität zu überdenken, sich auf forschungsbezogene Konflikte vorzubereiten und über Reaktionsmöglichkeiten nachzudenken.

Wie beeinflussen collateral publics unsere Methoden und unsere Publikationsstrategien? Wie können wir mit den Folgen des Zufalls und dem Eigensinn der Akteur*innen umgehen, das heißt solche Öffentlichkeiten produktiv nutzen und potentiellen negativen Effekten begegnen?

Im Workshop möchte ich zunächst das Konzept collateral publics vorstellen. In einem zweiten Schritt haben die Teilnehmenden Gelegenheit, auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen in Kleingruppen verschiedene Aspekte kollateraler Öffentlichkeiten und ihre ethischen wie methodischen Implikationen für den Forschungsprozess sowie die Dissemination von Forschungsergebnissen respektive Chancen und Risiken im Kontext von Anforderungen einer public anthropology zu diskutieren. Im dritten Teil des Workshops werden die Gruppenergebnisse zusammentragen und reflektiert.

Christian-Albrechts-Universität Kiel

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

Veranstaltungsgebäude 2

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund