Panel_A

Musste es so kommen?
Nichtdeterministische Kulturund Gesellschaftsanalyse in der gegenwärtigen Conjuncture, oder: wie zufällig ist der Rechtsruck?
Panelleitung: Prof. Dr. Moritz Ege (Zürich/CH), Prof. Dr. Ove Sutter (Bonn)

Aktuell scheint es, als sei die politische Verschiebung hin zu einer autoritär-neoliberalen Formation unaufhaltsam und als komme die extreme Rechte (als Verbindung von national-konservativen, neo-völkischen und faschistischen Kräften) mit Unterstützung u.a. digital-oligarchischer sowie konservativ-neoliberaler Akteure an immer mehr Orten an die Macht. Zu befürchten ist u.a. der Abbau sozialer und politischer Rechte, die weitere Normalisierung von Rassismus und Anti-Feminismus und eine Abkehr von einer progressiven Klimapolitik. Ethnografische und historisch-kulturanalytische Forschungen haben vielfältige Nahaufnahmen damit verbundener Prozesse geliefert und auch Gegenentwicklungen und -kräfte ausgemacht. Zumeist unbeantwortet bleibt allerdings die Frage nach den genauen historischen Momenten und möglichen Kipp-Punkten, nach ihrer Zwangsläufigkeit oder der Möglichkeit, dass es auch ganz anders hätte kommen können.

Das Panel setzt an dieser Leerstelle ausgehend von neo- und postmarxistischen (Theorie-)Debatten an. Es fragt entlang konkreter ethnografischer und historisch-kulturanalytischer Beispiele nach dem Verhältnis zwischen Bestimmtheit oder Determinierung von kulturellen Dimensionen sozio-ökonomischer und politischer Prozesse auf der einen und nach Kontingenz und Nicht-Determinierung auf der anderen Seite. Wie können Unbestimmtheit und Bestimmtheit in solchen Kontexten beschrieben und theoretisiert werden? Welche Effekte haben unsere Konzepte von (Nicht-)Determinierung auf unsere Erkenntnismöglichkeiten?

Das Panel soll die analytisch-begriffliche Reflexion vorantreiben – und zugleich das Verständnis der (gesellschafts-)politischen Umstände und von Handlungsmöglichkeiten in ihr und gegen sie.

 

Alle Panelbeteiligten
Inhaltliche Einleitung

Über welche Entwicklungen der letzten Zeit waren die Beitragenden überrascht, über welche nicht, und warum?

 

Dr. Olga Reznikova (Innsbruck/AUT)
Moral und Verbrechen in der Musik: eine Vorgeschichte des russischen Faschismus?

Der Versuch, die Vorgeschichte des sich durchsetzenden Faschismus zu rekonstruieren, bringt die Versuchung mit sich, stärker in Kontinuitäten zu denken. Da die Gegenwart eindeutig das Scheitern aller (auch liberaler und konservativer) Hoffnungen widerspiegelt, scheint das Politische, Ethische und Kulturelle der Vorkriegszeit „automatisch“ zu den Kriegsverbrechern zu führen. Anhand der Geschichte der Popularisierung der Kriminellen-Figur in der russischen Massenkultur diskutiert der Beitrag einerseits die Offenheit der 1990-2000er Jahre und andererseits die Bestimmtheit der damals neu etablierten Tiefenstrukturen.

 

Prof. Dr. Lisa Riedner (Augsburg)
Konfliktfeld Sozialhilfebetrug

Dieser Beitrag setzt bei alltäglichen Auseinandersetzungen zwischen bürokratischen Versuchen, soziales Handeln zu bestimmen und alltäglichen Praktiken, die sich nicht in sozialpolitische Ordnungen einpassen (lassen), an. Der Fokus liegt auf dem Politikfeld des Sozialhilfebetrugs, das als Knotenpunkt wohlfahrtsstaatlicher Verwaltungspraxis, (national-)chauvinistischer Bedrohungsfantasien und autoritärer Kontrollprojekte in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat.

 

Dr. Victoria Huszka (Bonn), Prof. Dr. Ove Sutter (Bonn)
Kulturkämpfe um die „Leere“ auf dem Land

Die sozioökonomische Transformation ländlicher Räume u.a. durch demografischen Wandel und landwirtschaftliche Modernisierung geht mit der medialen und alltagsweltlichen Problematisierung einer sozialen, kulturellen und infrastrukturellen Ausdünnung einher. Diese Prozesse sind Gegenstand politischer Bearbeitung im Sinne neoliberaler Formen des “Regierens aus der Ferne“. Der Abbau staatlicher Leistungen soll durch die Aktivierung lokaler Akteur:innen kompensiert werden. Während staatlich-institutionelle Fördermaßnahmen kulturelle Projekte anreizen, die kulturelle Diversität praktisch zu realisieren versuchen, nutzen auch rechtstextreme Akteur:innen die entstandenen Leerstellen zur Verwirklichung ihrer politischen Vorstellungen. Entlang ethnografischer Beispiele zeigen wir, wie sich in dieser ökonomisch bedingten Konstellation kulturpolitische Kämpfe mit offenem Ausgang um die “Leere” und die Gestalt des Gemeinsamen entfalten.

 

Prof. Dr. Moritz Ege (Göttingen)
Moralismuskritik und Alltagsverstand

Dem Kulturkampf-Topos, dass Liberale und Linke morali(sti)sch seien und zu wenig auf Realismus setzen, wird erhebliche Erklärungskraft für die “Rechtswende” zugeschrieben. Die Texte dieses Diskurses greifen Wissensbestände der EKW auf, indem sie den Alltagsverstand der «kleinen Leute» zu kennen behaupten und sozialstrukturell determinierte Zusammenhänge zwischen Milieus und moralischen Stilen postulieren. Der Vortrag geht diesem Zusammenhang anhand unterschiedlicher Materialtypen (Fachgeschichte, Medien, Interviews) nach und diskutiert die Plausibilität und die Performativität von Determinierungsbehauptungen, Hegemonie-Anstrengungen und Zufällen.

Christian-Albrechts-Universität Kiel

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

Veranstaltungsgebäude 2

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund