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Kontingenzen künstlicher Intelligenz: Zufall und Kontingenzmanagement KI-basierter Algorithmen
Leitung: Prof. Dr. Christoph Bareither (Tübingen) /
Dr. Libuše Hannah Vepřek (Tübingen)

Bereits Mitte der 1990er-Jahre beschrieb Stefan Beck „Technik und Technologie als Faktoren sozial-kulturellen Kontingenzmanagements, als individuell und kollektiv wirksame Bedingungen und Ermöglichungen des alltäglichen Handelns“ (Beck 1997, 297). Technik schafft aus dieser Perspektive einerseits neue Möglichkeiten, aber sie bedingt zugleich, wie Menschen mit der Vielfalt und Zufälligkeit des Möglichen umgehen. Diese Idee möchten wir aufgreifen und auf aktuelle Entwicklungen rund um „Künstliche Intelligenz“ anwenden. Wir fragen anhand von drei Studien, die alle aktuell an der Universität Tübingen durchgeführt werden und dadurch in einem engen Austausch stehen, wie KI-Systeme Kontingenz managen und inwiefern sich genau daraus ihre spezifischen Qualitäten und Funktionen im Alltag ergeben. Die Studien untersuchen generative KI in den Geistes- und Sozialwissenschaften (Vortrag Lukas Griessl), KI-basierte Zeitzeugnisse des Holocaust (Vortrag Berit Zimmerling) und die KI-basierten Algorithmen von Social-Media-Feeds (Vortrag Ann-Marie Wohlfarth).

In allen drei Feldern ist ein doppeltes Kontingenzmanagement zu beobachten: einerseits werden aufgrund umfangreicher Datenbestände Algorithmen ‚trainiert‘, die diese Datenbestände einhegen und darin gezielt Informationen herausfiltern, auswählen und wiedergeben können (bspw. Outputs bei ChatGPT). Hier managen KI-Systeme ‚selbst‘ Kontingenz in dem Sinne, dass sie für ihre User*innen durch die unübersichtliche Vielfalt der verfügbaren Daten navigieren und daraus ‚Sinn‘ schöpfen. Gleichzeitig sind die von KI-Systemen generierten Ergebnisse selbst wieder von Kontingenz und Zufall geprägt, da sie Variation und Vielfalt zulassen, was wiederum ein Kontingenzmanagement durch die menschlichen Akteur*innen erfordert. Aus dieser Spannung ergeben sich in allen drei Forschungsfeldern spezifische Dynamiken innerhalb der soziotechnischen Assemblages, in die KI-Systeme eingebettet werden.

 

Dr. Lukas Griessl (Tübingen)
Virtuelle Kontingenz und die Transformation epistemischer Praktiken

Generative KI-Tools begegnen dem Problem der doppelten Kontingenz, indem sie menschliche Intelligenz als Input nutzen, welcher ihren Output strukturiert und steuert. Diese Form einer „virtuellen Kontingenz“ (Esposito, 2024) ermöglicht, dass Algorithmen die menschliche Kontingenz aufnehmen, transformieren und in aufbereiteter Form an die Nutzer*innen zurückgeben. Die Antworten erscheinen daher oftmals authentisch, überraschend und bedeutungsvoll. Generative KI-Tools erweisen sich somit als anschlussfähig an eine Vielzahl epistemischer Praktiken in akademischen Assemblages, die sie transformieren, stabilisieren oder auch destabilisieren können. Auf Basis von Interviewdaten mit Wissenschaftler*innen und Studierenden untersucht dieser Vortrag, wie der Einsatz generativer KI epistemische Praktiken in den Geistes- und Sozialwissenschaften beeinflusst und welche Rolle Unbestimmtheit als produktive Ressource in diesen Transformationsprozessen spielt.

 

Berit Zimmerling M.A. (Tübingen)
Kontingenzen des Erinnerns: Zufälligkeit in Interaktionen mit KI-basierten virtuellen Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden

Das doppelte Kontingenzmanagement in Interaktionen mit KI-gestützten virtuellen Abbildern von Holocaust-Überlebenden führt zu neuen Interpretationsrahmen in der Begegnung mit ihren Zeugnissen. Die bspw. in Museumsausstellungen präsentierten KI-Systeme spielen in den Interaktionen mit Besucher*innen ‚authentische‘ Antworten von Zeug*innen aus, die den Eindruck von Zufälligkeit und Spontanität erzeugen und dadurch der dialogisch anmutenden Interaktion ‚Echtheit‘ und Bedeutung zutragen. Zeitgleich erfordert das KI-System gerade wegen der Zufälligkeit der ausgespielten Inhalte, die Missverständnisse und emotionale Konflikte erzeugen kann, immer wieder menschliche Interventionen. Die menschlichen Akteur*innen versuchen die Unwägbarkeiten des Systems in anschließenden Diskussionen über die ausgespielten Antworten zu kontextualisieren und auszugleichen. Das dadurch entstehende, doppelte Kontingenzmanagement durchbricht bekannte emotionale Muster des Zeitzeug*innendialogs und verändert etablierte Erinnerungspraktiken.

 

Ann-Marie Wohlfarth M.A. (Tübingen)
Kontingenz und methodische Ambiguität: Ethnografische Perspektiven auf Social-Media-Feeds

Die doppelte Kontingenz KI-basierter soziotechnischer Systeme verändert die Konstitution digitaler ethnografischer Felder. Insbesondere Social-Media-Feeds verdeutlichen diese Dynamik: Algorithmen kuratieren Inhalte, indem sie Content ordnen, filtern und ausspielen, während Nutzer*innen ihre Feeds interpretieren und durch ihr Verhalten aktiv mitgestalten. Das hat auch methodische Konsequenzen dafür, wie die entsprechenden Inhalte und die darin sichtbar werdenden Akteur*innen sowie Praktiken den sie beforschenden Ethnograf*innen begegnen. Digitale Felder werden durch KI-basierte Algorithmen dynamischer, temporärer und fragmentierter, da algorithmisierte Entscheidungen, (Un)Sichtbarkeiten und menschliche Interpretationen eng verwoben sind. Der Vortrag wird die daraus resultierende epistemische und methodische Unsicherheit beleuchten, die von Ethnograf*innen eine bewusste Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit und Ambiguität als Forschungsbedingungen erfordert.

Christian-Albrechts-Universität Kiel

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

Veranstaltungsgebäude 2

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund