Prof. Dr. Victoria Hegner (Jena)
Das (erlernte) Gespür für die Gelegenheit und die Lust am Spiel – Zum Durchsetzungsprinzip von Gleichstellungsansprüchen in der Wissenschaft
In der Praxis von Wissenschaft ist die Maßgabe sozialer und geschlechtlicher Gleichstellung klar formuliert. Sie ist der rechtlichen Ordnung von Forschungs- und Bildungsinstitutionen eingeschrieben und in Förderprogrammen finanziell in Wert gesetzt. Die Durchsetzungskraft der aufgestellten politisch-moralischen Ansprüche koppelt sich eng an diese Form struktureller Etabliertheit. Doch so stark die Wechselbeziehung hier ist, sie wirkt keineswegs so determinierend, linear und vereinheitlichend, wie es in wissenschaftstheoretischen Betrachtungen oft erscheint. Vielmehr werden im Zusammenwirken von gleichstellungsfördernden Strukturen und wissenschaftlicher Praxis immer auch spezifische Spiel- bzw. Möglichkeitsräume eröffnet, also Handlungs- und Denkoptionen formuliert, die als Ressource genutzt werden können, aber nicht zwingend sind. Lioba Keller-Drescher hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Gelegenheiten“ analytisch fruchtbar gemacht. Damit fasst sie, „was zwischen Zufall und Notwendigkeit liegt, was also weder nur das Ergreifen des Kairos (der günstige Augenblick) noch pure Strategie und Planung ist“ (Keller-Drescher 2017: 9).
Diesen Überlegungen folgend, möchte ich an den Sektor der universitären Gleichstellungsarbeit und an seine Akteur*innen – den Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftragten –näher heranrücken. Ich stelle den Fokus scharf auf Berufungsverfahren, denn in ihnen wird besonders hart um Fragen von Fairness an der Schnittstelle zur fachwissenschaftlichen Praxis und Kompetenz gerungen. Basierend auf Daten aus teilnehmender Beobachtung und Interviews soll hervortreten, dass mehr als auf grundständige Rechtskenntnis und strategische Handlungsbereitschaft, es auf ein feines Gespür für „gute“ Gelegenheiten ankommt, um die Anliegen der Gleichstellung umzusetzen. Gespür verstehe ich als ein implizites Wissen „das zwischen Körper und Handeln, zwischen Sprache und Empfindung liegt“ (Schulze 2012: 11). Die Bedeutung einer Situation wird gleichsam leiblich erahnt und bringt insbesondere Gleichstellungsbeauftragte dazu, mitunter spontan einzugreifen oder die Situation auch ungenutzt verstreichen zu lassen. Nicht immer wird hier einem klaren Kalkül gefolgt. Wie dieses Gespür für die „gute Gelegenheit“ genau entwickelt bzw. erlernt wird und zum zentralen Gradmesser effektiver Gleichstellungsarbeit avanciert und wie sich dabei „performative Spielräume“ auftun, die manche Gleichstellungsbeauftragte geradezu lustvoll ausfüllen, soll offengelegt werden. Es wird deutlich, wie im Feld der Wissenschaft bei aller Etablierung von Struktur und juristischer Ordnung Momente zwischen „Zufall und Notwendigkeit“ wirkmächtig bleiben. Die universitäre Gleichstellungsarbeit ist hierfür emblematisch.