Marie Fröhlich M.A. (Göttingen)
Und jedem Anfang wohnt (k)ein Zufall inne? Geburtshilfliche Versorgungslücken als Nekropolitiken der Reproduktion
Seit Entstehung der Geburtsmedizin gab es vielfältige Versuche, die Unplanbarkeit von Geburt kontrollierbar zu machen und geburtliche Risiken einzuhegen (Foucault 1977; Schlumbohm 2004). Technologien der biomedizinischen und versicherungsrechtlichen Absicherung von Geburt sind auch heute so allgegenwärtig wie umstritten (Beck 1997; Rose/Schmied-Knittel 2011). So argumentieren hingegen care-orientierte Perspektiven, dass eine fürsorgezentrierte Geburtsbegleitung viele geburtshilfliche Risikoszenarien gar nicht erst entstehen lasse (Malacrida/Boulton 2014). Mit Collier/Lakoff (2007) und Morgan/Roberts (2012) lassen sich diese Ansätze als verschiedene moral regimes of living verstehen, als Projekte des Guten. Zugleich stehen sie in scharfem Kontrast zur aktuellen Versorgungslage, die seit rund 15 Jahren durch zunehmenden Personalmangel und häufige regionale wie temporäre Versorgungslücken geprägt ist.
In meinem Vortrag nehme ich diesen widersprüchlichen Befund als Ausgangspunkt und komplexisiere ihn auf Basis empirischen Materials aus meiner ethnographisch-regimeanalytischen Promotionsforschung zur gesundheits- und körperpolitischen Regulierung von Geburt (Gutekunst/Schwertl 2018; Hess/Tsianos 2010). Es umfasst u. a. Teilnehmende Beobachtungen in regulativen und Praxiskontexten, Interviews mit Akteur*innen aus Praxis und Verwaltung des Gesundheitswesens sowie die Analyse (berufs-)politischer Programme.
Am Beispiel der geburtshilflichen Versorgung geflüchteter und/oder rassifizierter Frauen* arbeite ich im Vortrag heraus, dass Versorgungslücken in der Geburtshilfe bei Weitem kein neues Phänomen sind. Aus Perspektive der Reproductive Justice (Ross/Solinger 2017) müssen sie vielmehr als systemimmanente necropolitics of reproduction (Mullings 2021) verstanden werden und sind zugleich konstitutiver Teil der o.g. moral regimes of living. ‚Sichere‘ Versorgung rund um Geburt ist im von Diskriminierungen durchzogenen Gesundheitswesen mithin stark vom Goodwill einzelner Versorger*innen abhängig und bleibt oft dem Zufall überlassen.
Ausgehend von diesem ethnographischen Beispiel erschließt der Vortrag zentrale Ansätze der anthropology of reproduction und entwickelt diese in policy– und regimetheoretischer Perspektive weiter. Er leistet somit einen Beitrag zu einem komplexeren Verständnis des gesellschaftspolitischen Stellenwerts reproduktiver Felder und ihrer Normierungen, und verdeutlicht welche geschlechter- und ungleichheitspolitischen Werte hier verhandelt werden.