Jasmin Schmidlin M.A. (Basel/CH)
Das menstruierende Selbst und das zyklische Leben: Zum Umgang mit (un-)vorhersehbarer Körperlichkeit
„I got my flow the night before the London Marathon […].“ (Gandhi 2015) Die Zeilen stammen von Kiran Gandhi, die im Jahr 2015 menstruierend den Londoner Marathon lief, ohne Menstruationsprodukte, sichtbar blutend. Die potenzielle Unvorhersehbarkeit des menstruierenden Körpers tritt hier insofern zutage, als dass Gandhi ihre Menstruationsblutung im Nachgang als eine Überraschung darstellt. Dies zeigt sich in ihrer Aussage, sie habe sich in ihrem Training nicht für ein solches Szenario vorbereitet und ebenso in ihrer Unentschlossenheit, wie sie dieser Situation zu begegnen hat. Dies muss auf den ersten Blick insofern verblüffen, als dass Gandhi mit Sicherheit um diesen ihr eigenen körperlichen Vorgang weiß, ihn bereits erlebt und diesen in Übereinstimmung mit gängigen „Reinheitsregeln“ (Douglas 1986, S. 3) ‚gemanagt‘ hat. Denn im Zeitungsartikel rekonstruiert sie ihr Nachdenken darüber, wie sie den Marathon laufen wird, als eines, bei dem sie die unterschiedlichen Optionen bzw. Produkte abwägt. Warum kann ein körperlicher Vorgang wie die Menstruation überhaupt zum Moment der Überraschung werden?
Ich möchte mich dieser Frage unter Bezugnahme auf Menstruationsratgeber nähern, in denen das zutage tritt, was ich als «zyklisches Leben» bezeichne. Darin wird nicht so sehr geregelt, wie Menstruation mittels Hygieneprodukte verborgen wird, also das was unter dem Begriff der «Menstruationsetiquette» (Laws 1990) verstanden wird. Vielmehr geht es darum, wie ein zyklisches Leben, also ein «richtiger» Umgang mit und in Einklang mit dem eigenen Zyklus (siehe etwa Hill 2019; Oberle 2020; Roch 2022), gestaltet werden kann oder soll. Dabei dominieren zwei, sich konkurrierende Narrative: Zum wird der Zyklus als je nach Person individueller dargestellt, wobei kein Zyklus dem anderen gleicht. Zum anderen ist die Darstellung durchzogen von Normalisierungsnarrativen. Was darin verhandelt wird, so meine These, ist ein ambivalentes Verhältnis zur (Un-)Vorhersehbarkeit des Menstruationszyklus. Es geht also gewissermaßen um die Herstellung einer „Ordnung[] des Unvorhersehbaren“ (Pflaumbaum et al. 2015, S. 8). Mein Beitragsvorschlag nimmt den verblüffenden Zusammenhang von Menstruation und Überraschung zum Anlass, um der These nachzugehen, dass in Menstruationsratgebern eine Aushandlungsprozess über die (Un-)Vorhersehbarkeit des menstruierenden Körpers stattfindet, die diesen sowohl als hochgradig individuell und gleichzeitig im Raster der Normalisierung darstellt.